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Was dein Herz nicht weiß

Was dein Herz nicht weiß

Titel: Was dein Herz nicht weiß
Autoren: S Park
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ich dich gefragt hätte.«
    »Aus gutem Grund«, meldete die Mutter sich zu Wort und zupfte das ovale Hirsekissen, auf dem sie saß, zurecht. »Wenn du arbeiten willst, bevor du heiratest, kannst du Lehrerin oder Sekretärin werden. Aber Diplomatin? So etwas habe ich noch nie gehört.«
    Soo-Ja betrachtete ihre Mutter, eine zierliche Person, die älter wirkte als ihre vierzig Jahre. Meistens trug sie ein Haarnetz und zog sich an wie eine Großmutter: mehrere Lagen dicker Wollpullover, altmodische Pluderhosen und weiße Socken, die an Entenfüße erinnerten. Sie benahm sich niemals wie eine reiche Frau, und Schmuck besaß sie überhaupt gar keinen.
    »Das will ich aber nicht. Ich will reisen«, betonte Soo-Ja. »Darf ich … darf ich den Brief sehen?«
    Der Vater zögerte zunächst, reichte ihr dann aber den Brief.
    Gespannt überflog sie ihn und war schon in der Mitte angelangt, bis ihr klar wurde, dass man sie angenommen hatte. Ihr Herz begann zu flattern, als wäre in ihrem Brustkorb ein Vogel eingesperrt, den es nach draußen drängte. Soo-Ja hob lächelnd den Blick und sah ihre Eltern an in der Erwartung, Stolz in ihren Augen zu sehen. Aber sie fand keinen.
    »Du musst nicht ganz normal sein, wenn du glaubst, dass du nach Seoul gehst«, sagte die Mutter und beugte sich über eine kleine Gasflasche, um sich die Pfeife anzuzünden. »Was würden denn die Leute sagen, wenn wir dich alleine in eine fremde Stadt ziehen ließen? Das kommt gar nicht infrage.«
    Nebenan in der Küche waren die Köchin und ihre Helferinnen schon seit Stunden damit beschäftigt, das Essen für den morgigen Seollal -Feiertag vorzubereiten und in einem riesigen Eisentopf Song-pyeon auf duftenden Kiefernnadeln zu dämpfen. Doch aus der Küche kam kein Laut, fast so, als wären die Festtagsvorbereitungen aufgeschoben und die Köchinnen ebenfalls gescholten worden.
    »Wir müssen dich beschützen«, erklärte die Mutter. »Was meinst du, was passieren würde, wenn niemand auf dich aufpasste? Was würden unsere Freunde und Geschäftspartner sagen, wenn wir dich ganz allein nach Seoul fahren ließen? Sie würden denken, wir wären entweder verrückt geworden oder unfähige Eltern.«
    Jetzt vernahm Soo-Ja wieder Geräusche aus der Küche; das Personal hatte anscheinend wieder angefangen zu arbeiten. Sie hörte, wie einem Schwein der Kopf mit einem Küchenmesser abgeschlagen wurde und wie seine Eingeweide in der Pfanne über dem Feuer brutzelten. Die Luft im Raum war schwer, und Soo-Ja saß auf ihrem Platz wie festgewachsen.
    »Aber ich würde fleißig arbeiten«, flehte sie. »Ich würde vom Unterricht direkt auf mein Zimmer gehen und von dort wieder zum Unterricht, mit niemandem reden und regelmäßig Tante Bong-Cha besuchen, damit sie bestätigen kann, dass es mir gut geht.«
    Soo-Jas Vater wirkte nachdenklich. »Deine Mutter hat recht. Seoul ist eine unsichere Stadt. Jeden Tag hört man im Radio von Kämpfen zwischen Demonstranten und der Polizei .«
    »Aber es finden doch überall Kämpfe statt!«, rief Soo-Ja und ballte die Hände zu Fäusten.
    »Aber nicht so brutale wie in Seoul«, gab der Vater zurück. »Es ist unsere Hauptstadt. Dort liegt das Blaue Haus. Das zieht alle möglichen Unruhestifter an.«
    »Diese Demonstrationen werden auch nicht ewig dauern. Sie sind bald vorbei.« Soo-Ja wollte aufspringen, aber sie hielt still wie eine Steinpagode und hoffte, die Worte ihrer Eltern würden über sie hinwegziehen wie Regen bei einem Sturm.
    »Hör auf, Soo-Ja«, sagte die Mutter, die damit das Ende der Diskussion anzeigte. Sie nahm die Pfeife aus dem Mund und gestikulierte in Richtung ihrer Tochter. »Bist du nun eine gute Tochter oder die böse Fuchstochter aus der Sage? Es ist nur zu deinem Besten.«
    Das war eine endgültige Ablehnung, und Soo-Ja wusste, sie würde nicht nach Seoul gehen. Sie würde niemals Diplomatin werden. Der Schmerz dieser Erkenntnis war so heftig, dass sie schwankte und nur mühsam das Gleichgewicht halten konnte. Jederzeit konnte sich der Boden unter ihr auftun. Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass nicht die Erde zitterte, sondern sie selbst.
    »Ihr habt unrecht«, verkündete sie. »Ich werde nach Seoul gehen. Ich werde einen Weg finden.«
    Gegen Mitternacht wurde Soo-Ja von Wolfsgeheul geweckt – doch diese Wölfe riefen ihren Namen. Sie rieb sich die Augen, die vom Weinen noch immer gerötet waren, warf schnell die schweren Steppdecken von sich und erhob sich von ihrem Lager auf dem Boden. Dann griff sie
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