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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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anderen, uns Leid zuzufügen und uns zu Opfern zu machen.«
    »Nein, meine Tochter. Nicht nach Gerechtigkeit zu streben heißt, diejenigen zu lieben, die uns Schaden zugefügt und über uns gesiegt haben. Liebe ist nicht passiv oder unterwürfig. Sie heißt, sich für das Gegenteil von Hass und Angst zu entscheiden, für eine Sache, die die höchste Kraft und die höchste Fähigkeit erfordert. Der Krieger, der sich mit Waffen wehrt, wird geehrt und gefeiert, doch worin liegt die Tapferkeit, einer Waffe mit einer Waffe zu begegnen? Die wahre Tapferkeit zeigt sich, wenn man einer Waffe mit offenen Armen gegenübertritt und sich weigert, ihr selbst unter Todesqualen mit Hass und Angst zu begegnen. Es stimmt, dass ein möglicher Angreifer die Wiedergutmachung fürchtet und deswegen nicht angreift, aber genauso gut kann er die Drohung der Wiedergutmachung ignorieren und weitermorden. Hat Gerechtigkeit das Verbrechen verhindert? Wir alle haben von Geburt an die Freiheit, uns zu entscheiden. Der weise Mensch entscheidet sich gegen Gerechtigkeit und für die Liebe und lebt damit selbstbestimmt. Indem er bedingungslose Liebe verströmt, beendet er sein Leiden und kehrt in den Garten Eden zurück, aus dem er vertrieben wurde. Indem er sich mit seinem Schöpfer wiedervereint, weiß er schließlich, was es bedeutet, Gott zu sein.«
    Ich bücke mich und greife nach dem Gegenstand, den Otto Bowles auf der Bank liegen ließ. Es ist der einarmige Christus, der auf dem Cudi Daği von der Menora fiel. Das junge Mädchen rührt sich und streckt schüchtern ihre linke Hand aus. Ich gestatte ihr, dass sie es nimmt. Sie geht damit durch die Bahnhofshalle zu Luas. Er ist gerade eingetreten und hat sich auf die Bank neben einem frisch eingetroffenen Präsentator gesetzt, der ein sehr verdutztes Gesicht macht. Das Mädchen bietet Luas die Christusfigur an, doch er winkt sie fort. Luas lächelt den neuen Präsentator an, wie er mich bei meiner Ankunft anlächelte, als wollte er sagen: Ja, mein Sohn, ich kann es sehen. Ich kann sehen, wovor du aus Angst die Augen verschließt, aber ich werde so tun, als hätte ich es nicht bemerkt.

42
    Der Mann auf der Bank versucht, seine Wunden zu leugnen und zu verbergen, wie ich es bei meiner Ankunft tat, doch jetzt bin ich Präsentatorin und sehe sie, und mit ihnen die letzten Momente seines Lebens.
    Der Mann heißt Elon Kaluzhsky. Sein Bauch ist aufgerissen, und Teile seines Gesichts und seiner Stirn sowie beide Arme und Beine fehlen. Zwanzig Minuten vor seiner Ankunft am Bahnhof, als sein Körper noch vollständig war, küsste er seine wunderschöne Frau und seine drei wunderschönen Kinder zum Abschied und ging in Haifa zwei ruhige Straßenblocks bis zur Bushaltestelle. Mit dem Sonnenuntergang würde Rosch Ha-Schana beginnen, und Elon Kaluzhsky dachte über das Festmahl nach, das ihn erwarten würde. Er liebte Datteln, und während er die Straße entlangging, sagte er das Gebet auf, das zu Rosch Ha-Schana beim Essen der Datteln gebetet wird: »Möge es dein Wille sein, dass unsere Verleumder und Ankläger zugrunde gehen.«
    Mit diesem Gedanken setzte sich Elon auf den letzten freien Platz im Schnellbus Nr. 35, der ihn in die Innenstadt ins Büro einer erfolgreichen israelischen Exportfirma bringen würde, wo er für die Buchhaltung zuständig war. Er war an diesem Morgen guter Dinge und grüßte freundlich den seltsam gekleideten Mann, der bei dreißig Grad einen langen Mantel trug. Der Gruß wurde nicht erwidert, doch auch dies raubte Elon nicht die gute Laune. Freundlich lächelte er ein älteres Paar ihm schräg gegenüber und neben ihnen eine hübsche, junge Sekretärin an. Weiter hinten saßen mehrere Zeitung lesende Geschäftsleute, eine Gruppe Schüler und eine junge Mutter mit ihrem Sohn auf dem Schoß.
    Der Schnellbus legte an Geschwindigkeit zu, die Gebäude von Haifa rasten am Fenster vorbei. Mitten während der Fahrt, mitten auf der Straße, erhob sich der mit dem Mantel bekleidete Mann, stützte sich an einer Stange ab und zog unter seinem Mantel ein Maschinengewehr hervor. Ohne ein Wort zu sagen, eröffnete er das Feuer und mähte die Fahrgäste in einer halbkreisförmigen Bewegung seines Gewehrs nieder. Messingpatronen rasselten auf den Boden, und ein feiner Sprühregen aus Blut erfüllte die Luft, als ein Fahrgast nach dem anderen zu Boden stürzte – das ältere Paar, die Sekretärin, die Geschäftsleute, die Schüler und die junge Frau mit ihrem Sohn auf dem Schoß.
    Elon Kaluzhsky,
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