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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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Babymilchflecken, die sich in Blutflecken verwandelten. Ich war auf dem Weg in den Gerichtssaal, um den Fall von Nr. 44371 zu präsentieren.

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    Nr. 44371 sitzt auf derselben Bank, auf der ich nach meiner Ankunft am Bahnhof in Schemaja saß. Es ist, als wäre die Zeit stehengeblieben. Mein Blut klebt noch zäh am Boden und färbt die weißen Gefängnisturnschuhe von Nr. 44371 rot.
    Er sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorstellte, nachdem der Henker einen Strom von viertausend Volt durch seinen Körper jagte. Sein Schädel ist kahl und wund, wo die Elektroden das Gewebe nicht in schwarze Flocken und Asche verwandelt haben. Seine Haut und sein Gesicht haben die Farbe von abgestandener Milch, die Haut an Hand- und Fußgelenken ist abgeschürft. Seine Augen quellen aus den Höhlen, und seine Hose ist schmutzig. Er hält etwas in der Hand, doch als er mich sieht, versteckt er es und blickt auf den Boden, als hoffe er, dieser würde sich auftun und ihn verschlingen. Nr. 44371 weiß, dass heute der Tag ist, an dem er seiner Ewigkeit gegenübertritt.
    Neben Nr. 44371, am anderen Ende der Bank, sitzt ein junges Mädchen, das ebenfalls auf den Boden starrt. Es kommt mir vertraut vor, sieht aus wie die junge Amina Rabun, die mit ihrem Bruder im Sandkasten spielt, oder wie die junge Katharina Schrieberg, als sie mit ihrem Vater in Dresden ins Café ging, oder wie die junge Sheila Bowles, die auf dem Bett im Sanatorium mit einer Puppe spielt. Es sieht aus wie alle kleinen Mädchen – unschuldig, mit den Gedanken woanders, verträumt –, doch es ist nackt, blass und abgemagert wie der Tod.
    Was mag sie angestellt haben, dass man sie hierherbrachte?
    Wie als Antwort auf meine Frage blickt sie auf und sagt: »Gott bestraft Kinder für die Sünden ihrer Eltern.«
    Ein leises Rumpeln hallt durch die Bahnhofshalle, ein Geräusch wie das eines in einen Bahnhof einfahrenden Zuges. Ich drehe mich um und entdecke Gautama, den Bildhauer der Kugel auf der Cocktailparty. Er trägt denselben regenbogenfarbenen Dhoti um seine Hüften und rollt seinen magischen Stein zwischen den Antragstellern hindurch. Er lächelt sie an wie ein Hausierer, der seine Waren feilbietet, doch sie achten nicht auf ihn, auch nicht, wenn ihnen die Kugel nahe kommt, das Muster ihres Lebens über der Oberfläche aufblitzt und ihnen ihre bisherige Reise zeigt.
    Gautama hält seine Kugel vor Nr. 44371 an. Die Oberfläche glättet sich, bevor sich auf ihr eine groteske Flut aus Szenen aus Otto Bowles’ Leben wie auf einem Wollknäuel verwickeln – hier ein verlegener und wütender Junge, der seinem Vater nicht vergeben kann, weil er beim Footballspiel seinen Großvater schlug; dort ein Mann, der dreimal auf mich schießt und die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl verlangt. In seiner Arroganz, mit der er hier, im Bahnhof in Schemaja, auf der Bank unter der Kuppel aus verrosteten Trägern sitzt, die von weit oben vielleicht wie ein Gully in einer verlassenen Seitenstraße des Universums aussieht, nimmt Nr. 44371 nicht sein auf der Kugel eingraviertes Leben wahr und denkt auch nicht darüber nach, ob für die Schöpfung ein Abflusskanal gebraucht wird. Er starrt stumpf auf den Boden, fordert ihn auf, sich zu öffnen und ihn in sich aufzunehmen. Ich höre seine Seele nicht mehr schreien wie im ersten naiven Moment des Mitgefühls in meinem Büro, als ich ihm noch den Rücken zuwandte. Ich höre überhaupt nichts. Ich notiere mir, dass ich seine Überheblichkeit in seiner Präsentation mitaufnehmen will.
    »Sei gegrüßt, meine Tochter«, sagt Gautama zu mir.
    Die Oberfläche der Kugel ändert sich, als ich mich ihr nähere, und stellt meine Lebensentscheidungen dar. Auf der Cocktailparty hatte ich sie nur in Ausschnitten zwischen den Türpaaren gesehen, doch jetzt erscheinen sie in allen Einzelheiten wie auf einer kugelförmigen Straßenkarte. Der Weg beginnt oben auf der Kugel mit meiner Geburt und der ersten Ungerechtigkeit, dem Bauch meiner Mutter entrissen und auf immer ihres Schutzes beraubt zu werden. Die Türen öffnen sich zu Nanas Beerdigung und der Ungerechtigkeit, von meiner Mutter eine Ohrfeige zu bekommen – von der Mutter, die mich erschaffen und geliebt hatte –, weil ich weinte, als sie mich zwang, Nanas Leiche zu küssen. Die Kugel zeigt die Abende, als meine Mutter zu betrunken oder deprimiert war, um sich um mich zu kümmern, und ihre heftigen Kämpfe mit meinem Vater, der zu selbstsüchtig und anderweitig beschäftigt war, um es zu bemerken.
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