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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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Liebe, wo ich vom Bauch meiner Mutter getrennt wurde.
    Gautama rollt die Kugel ein Stück auf Nr. 44371 zu, woraufhin auf der Kugel meine Entscheidungen von seinen überlagert werden. Irgendwie sind wir ähnliche Pfade gegangen. Unser Ende im Pilzhaus scheint mathematisch beinahe gewiss zu sein, das unvermeidliche Ergebnis einer Reihe paralleler Gleichungen und geometrischer Gesetze. Wir verbrachten unser Leben damit, uns vor dem unerträglichen Schmerz der Ungerechtigkeit zu schützen. Und damit, die unvorstellbare Möglichkeit der Vergebung zu leugnen.
    Das Mädchen auf der Bank bewegt sich. Sie interessiert sich für die Kugel, streckt ihre rechte Hand aus, um sie zu berühren, was aber nicht geht, weil ihr Arm am Ellbogen in einem Stumpf endet. Jetzt erinnere ich mich an sie: Ich habe sie während der Cocktailparty in der Bahnhofshalle gesehen, als mir Luas die zwischen den Schatten treibenden Antragsteller zeigte. Damals war ich nicht in der Lage, in ihre Seele zu blicken, und aus irgendeinem Grund enthüllt die Kugel auch jetzt nichts von ihr.
    Die Oberfläche der Kugel wird gelöscht. Zwei Doppelflügeltüren erscheinen. Sie sehen aus wie Miniaturen der Türen zum Gerichtssaal. Über einer Doppelflügeltür steht das Wort GERECHTIGKEIT, über der anderen das Wort VERGEBUNG.
    »Noah stand einst vor diesen Türen«, erklärt Gautama. »Und Jesus von Nazareth wurde hier gedemütigt. Jetzt ist deine Zeit gekommen, meine Tochter.«
    Das Mädchen blickt von Gautama zu mir und zieht ihren Armstumpf zurück.
    »Du hast gesehen, wie Jahwe sie abgeschlachtet hat«, fährt Gautama fort. »Mütter, Väter, Säuglinge. Du bist mit Noah über das Meer des Schreckens gesegelt, du hast ihre faulenden Körper gerochen und ihre leidenden Schreie gehört.«
    »Ja«, bestätige ich.
    »Und als sich das Wasser zurückzog und die Sonne zurückkehrte, sahst du, wie Noah zum Mörder hinaufblickte. Du sahst ihn mit eigenen Augen, und dennoch willst du nicht sehen.«
    »Ich sah göttliche Gerechtigkeit, dargestellt als Regenbögen«, verteidigte ich mich.
    »Regenbögen haben nicht die Farben der Gerechtigkeit, meine Tochter. Es sind die Farben der Vergebung.«
    »Gott vergab niemandem.«
    »Das stimmt, meine Tochter. Aber Noah vergab Gott, und die Farben von Gottes Freude brachen durch den Himmel. Tausende von Jahren später folterten und töteten die Menschen Gott an einem dunklen, schrecklichen Nachmittag. Dieses Mal vergab Gott den Menschen, und die Farben unserer Freude brachen an einem Ostermorgen hervor. Liebe ist nur dann bedingungslos, wenn sie auch den mit einschließt, der dieser Liebe am unwürdigsten ist. Du verstehst noch nicht, dass Gerechtigkeit das genaue Gegenteil all dieser Liebe und all dessen ist, was du bist. Je länger du nach ihr strebst, desto weiter entfernst du dich von dem Ort, an dem du gerne wärst. Das Königreich Gottes kann nur über den Weg der Vergebung erreicht werden.«
    Nr. 44371 erhebt sich von der Bank und geht durch die Bahnhofshalle, lässt das junge Mädchen und den Gegenstand zurück, den er in den Händen gehalten hat.
    »Aber Liebe ist Gerechtigkeit«, halte ich Gautama entgegen.
    »Ist sie nicht«, widerspricht Gautama. »Kain tötete Abel um der Gerechtigkeit willen. Gott überflutete die Erde um der Gerechtigkeit willen. Die Menschen kreuzigten Jesus von Nazareth um der Gerechtigkeit willen. Schrecken und Mord sind der Weg der Gerechtigkeit, nicht der Liebe. Jeder Krieg und jedes Leid dienten der Gerechtigkeit. Soldaten töten, weil sie ihren Beweggrund für gerecht halten. Angreifer greifen an, weil sie ihren Beweggrund für gerecht halten. Gerechtigkeit ist der Antrieb für den schimpfenden Ehepartner, die wütenden Eltern, das schreiende Kind, den streitsüchtigen Nachbarn, die erzürnte Nation. Wer nach Gerechtigkeit strebt, erfährt keine Heilung, sondern Leid, weil man, um Gerechtigkeit zu erhalten, etwas tun muss, das ungerecht ist. Gott erlebte Gerechtigkeit im reinsten Sinn, als er die Erde überflutete und die Möglichkeit des Bösen zerstörte, doch der Preis dafür war unerträglich. Die gesamte Schöpfung wurde zerstört, und Gott wurde von all dem getrennt, was Gott liebte, und dem, was ihn im Gegenzug dazu hätte lieben können. Deswegen wird die Geschichte erzählt, meine Tochter. Sie ist eine Warnung, keine Einladung. Ein Regenbogen enthält Gottes Versprechen, nie wieder nach Gerechtigkeit zu streben.«
    »Aber wenn wir nicht nach Gerechtigkeit streben, gestatten wir
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