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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Durcheinandertal
Roman
    Diogenes
    Er sah aus wie der Gott des Alten Testaments ohne Bart. Er saß auf der Mauer der Straße, die im Durcheinandertal zum Kurhaus hinaufführt, als das Mädchen ihn bemerkte. Es hielt Mani an. Der Hund war größer als ein Bernhardiner, kurzhaarig, schwarz mit weißer Brust. Er zog den Karren mit dem Milchkessel, hinter dem das Mädchen stand. Das Mädchen war vierzehn. Es öffnete den Milchkessel und entnahm mit dem Schöpfer Milch und ging zu ihm. Es wußte nicht, warum. Der Gott ohne Bart nahm den Schöpfer, trank ihn leer. Plötzlich fürchtete sich das Mädchen. Es verschloß den Milchkessel, hängte den Schöpfer ein, gab Mani ein Zeichen, und der Hund rannte mit dem Mädchen und dem Karren so schnell zum Kurhaus hinauf, als fürchte er sich auch.
    Der Gott ohne Bart hatte Humor. Nach dem Anliegen, das ihm Moses Melker vorgebracht hatte, brach er in ein Gelächter aus, das die noch tanzenden Gäste aus dem Takt und die drei musizierenden Tschechen – Klavierspieler, Geiger und Cellist
    – zum Verstummen brachte. Freilich erst, nachdem sich Melker entfernt hatte, überzeugt, abgewiesen worden zu sein. Der Gott ohne Bart hatte mit keiner Wimper gezuckt. Der Grund seines nachträglichen Gelächters lag wohl vor allem darin, daß Melker vom Großen Alten sprach und daß der Gott ohne Bart meinte, Melker meine damit ihn, bis er dahinterkam, daß Melker mit dem Großen Alten Gott meinte. Den Gott mit Bart.
    Das Mißverständnis war verständlich. Moses Melker scheute sich, das Wort ›Gott‹ auszusprechen, und so sprach er denn stets vom Großen Alten, denn er konnte sich Gott nur als mächtigen uralten Mann mit einem gewaltigen Bart vorstellen, und daß der Mensch sich Gott vorstellen durfte, war für Melker das »christliche Glaubensaxiom schlechthin«. Das dem Glauben Feindliche, ihn Zersetzende, war die Abstraktion, nur 3
    an einen persönlichen Gott konnte man glauben, und eine Person konnte nicht abstrakt sein, darum scheute er sich auch vor dem Wort ›Gott‹, es war abgenutzt, die meisten verstanden darunter etwas Unbestimmtes, Vages, für Melker dagegen war es der »Große Alte«. Es war daher nicht verwunderlich, daß der Große Alte verwirrt wurde, als Moses Melker ihn fragte, ob er sich bewußt sei, in der Gnade des Großen Alten zu leben, und ob er helfen wolle, aus Dankbarkeit dem Großen Alten gegenüber eine Erholungsstätte für die vom Großen Alten begnadeten Millionäre zu errichten. Erst im weiteren Verlauf des Gesprächs legte sich die Verblüffung des Gottes ohne Bart und wich einer staunenden Heiterkeit, war er doch mächtiger als der Gott mit. Nicht daß er die Welt in sechs Tagen geschaffen und sie darauf gut gefunden hätte wie der Gott mit Bart, er hätte sie in einigen Minuten, in Sekunden, besser, in einem Bruchteil von Sekunden, genauer, in Bruchteilen von Bruchteilen von Bruchteilen davon, mit einem Wort plötzlich, auf der Stelle, sofort geschaffen und sie auch für einen guten Witz befunden. Auch sonst – nimmt man ihn aus dem theologischen Bereich – war der Gott ohne mächtiger als der Gott mit Bart, stellten sich doch bei ihm nicht solche Fragen wie die, ob er, wenn er allmächtig sei, einen Stein schaffen, den er nicht aufheben, oder ob er Geschehenes ungeschehen machen könne: Seiner Macht grübelte kein Theologe nach, und was seine Allmacht betrifft, so äußerte sie sich mehr in seiner Unfaßbarkeit. Keine Regierung und keine Polizei versuchte ihn zu ergreifen, zu viele Fäden liefen bei ihm zusammen. Wem allem hatten nicht seine Banken und die Banken, die mit den seinen in Verbindung standen, Nummernkonten verschafft, bei welchen Multis besaß er nicht die Aktienmehrheit, und bei welchen Waffenschiebungen großen Stils hatte er nicht die Hände im Spiel, welche Regierung korrumpierte er nicht, und welcher Papst fragte nicht bei ihm um eine Audienz nach?
    4
    Seine Herkunft lag im Ungewissen. Es gab nur Legenden darüber. Eine wollte wissen, er sei 1910 oder 1911 aus Riga oder Reval mausearm nach New York gekommen, wo er in Brooklyn »zehn Jahre lang auf nacktem Fußboden geschlafen«
    habe. Dann sei er Kaftanschneider geworden und habe bald darauf die Textilbranche beherrscht, doch stamme sein sagenhaftes Vermögen aus dem Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929, er habe eingesackt, was pleite ging. Niemand wußte, wie er hieß, die, welche wußten, daß es ihn gab, nannten ihn den Großen Alten. Er sprach nur Jiddisch, schien
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