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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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zu schlemmen. Der Tisch und die Stühle waren nun ein verkohlter Haufen, auf dem unversehrt das Paket Kaffee stand.
    Doch als er an diesem Morgen erkannt hatte, wozu das ›Haus der Armut‹ mißbraucht wurde, und ihn der Reichsgraf aufgefordert hatte, mit den Verbrechern Weihnachten zu feiern, wurde ihm, da er doch selber ein Verbreeher war, der Unsinn seiner Theologie bewußt, die der Unsinn jeder Theologie war: Sie fiel auf sich selber herein, tappte in die Falle ihrer Begriffe, dachte sich Gott vollkommen und die Welt unvollkommen, eine reine Gedankenkonzeption das Ganze, ohne Bezug zur Wirklichkeit, und wie er das erkannt hatte, dachte er den Gott seiner Jugend wieder als Idee, den sinnlichen Gott, den Gott, der seine Schöpfung liebte und nicht wertete, der sie aus unbändiger Freude erschaffen hatte und aus unbändiger Freude wieder zerstören würde, so wie seine Schöpfung sich selber 118
    immer wieder erschuf und zerstörte. Der Fußboden hielt immer noch, und auch der Schaukelstuhl war noch da, sprang manchmal, von Feuerstößen erfaßt, herum. Moses Melker spürte die Lust, die er beim Mädchen am Ufer der Grien unter den Weiden erlebt hatte, sie war eins mit der Lust Gottes, und alles war in Ordnung, der Arme und der Reiche und der Verbrecher, das Gute und das Üble, alles war aus einer einzigen schöpferischen Laune heraus entstanden. Über ihm brannte der Turm, ein Flammengeprassel, der Große Alte war sein Gedanke, seine Idee, seine Schöpfung und nichts außerdem. Bei einem Physiker hatte er einmal gelesen, wenn die Wirklichkeit reden könnte, so würde sie keine physikalischen Formeln aufsagen, sondern ein Kinderlied singen, und so dachte er, wenn Gott sich zeigen könnte, wäre er etwas völlig Unbegreifliches, Abstruses wie das Paket Kaffee Oetiker Fr. 10.15 oder der herumtanzende Schaukelstuhl, und wie die Flammen durch den Fußboden brachen, wußte Moses Melker, daß er nun wahnsinnig wurde; wenn Gott seine Erfindung war, mußte auch die Welt seine Erfindung sein, und neben seinem von ihm erfundenen Gott und seiner von ihm erfundenen Welt mußte es noch die Götter und die Weltalle geben, welche von den anderen Menschen erfunden worden waren, die Welt war ein ständig anwachsendes, von ineinandergeschachtelten Weltallen gebildetes Welthirn, dessen einzelne Neuronen wiederum aus ineinandergeschachtelten Weltallen bestanden, deren jedes aus einem Ich bestand, das dieses Weltall dachte samt den Galaxien, Sonnen und Planeten, die es brauchte, um die Evolution in Gang zu setzen, die auf dem Weg über Einzeller, Vielzeller, Weichtiere, Wirbeltiere den Menschen erzielte, der in einem phantastischen Zirkelschluß wiederum das Weltall dachte und einen Gott, einen hundertköpfigen oder tausendfüßigen, einen vielnasigen oder einen aus Holz oder aus Gold, oder eine vielbrüstige 119
    Göttin, so viele Götter wie Weltalle, unter ihnen auch den Großen Alten Moses Melkers, der sicher anders aussähe, als sein Erdenker ihn sich vorstellte, ein Gott, der, weil er als ewig erdacht war, auch leben würde samt der Welt, die sich Moses Melker dachte und samt all den anderen Welten und Göttern, die andere dachten. Als Moses Melker solches noch dachte, fing er an zu lachen. Dann brannte auch er, und neben ihm brannte das Manuskript ›Preis der Gnade‹, gewidmet Cäcilie Melker-Räuchlin, und schmolz die Uhr, und der Schaukelstuhl brannte und der Kaffee, und alles brach in die Tiefe hinunter.
    Vor dem Haus des Gemeindepräsidenten lag der Hund, neben ihm stand Elsi. Sie schaute auf den brennenden Wald, auf die lodernde Feuerwand jenseits der Schlucht, welche die Bewohner des Dorfes verschlungen hatte und noch verschlang.
    Sie lächelte. Weihnachten, flüsterte sie. Das Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch.
    Neuchâtel, 19.4. 89
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