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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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aber sämtliche Sprachen zu verstehen, so wie sein Sekretär Gabriel, ein wimpernloser Albino in Smoking und mit langen weißen Haaren, stets um die Dreißig herum, alle Sprachen beherrschte, denn er übersetzte die kurzen jiddischen Anweisungen seines Herrn in die Sprache derer, die den Großen Alten um Rat fragten. Sie taten es zitternd. Nicht ohne Grund. Sein Rat konnte gut sein oder tückisch. Der Große Alte war unberechenbar und nicht einzuordnen. Viele vermuteten, er sei unter anderem der Boß der Ost- und Westküste. Unter anderem. Freilich ohne Beweis. Einige hielten Jeremiah Belial für seinen Stellvertreter, einen aus Buchara über die Bering-Straße eingeschleusten Teppichhändler. Andere meinten, die beiden seien identisch, während es Kenner gab, die behaupteten, es gebe keinen von beiden. So war es denn auch zweifelhaft, ob irgend jemand wußte, wer der schweigsame alte Mann war, der mit seinem Sekretär im riesigen und ver-giebelten Kurhaus im Unteren Durcheinandertal abgestiegen war, gebaut in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, und den obersten Stock des Ostturms belegt hatte. Er war auf seltsame Weise gekommen. Auf einmal war er da. Die Kellner bedienten ihn und Gabriel automatisch. Sie nahmen an, er gehöre zu den Gästen, auch der Portier, auch Direktor Göbeli, dem das Kurhaus gehörte, nahmen es an. Er fiel niemandem 5
    auf, und als er wieder verschwand, vergaß man, daß er dagewesen war. Er war ein Gast unter Gästen. Außer Form, die Verdauung in Unordnung, das Herz mochte nicht recht, der Alterszucker machte zu schaffen. Die stillen Wälder, der Spazierweg zur Heilquelle, von der er jeden Morgen drei Gläser trank, stets von Gabriel begleitet, das Vieruhrkonzert mit vorwiegend klassischer Musik taten ihm wohl.
    Wenn schon im Kurhaus niemand ahnte, daß sich der Große Alte unter den Gästen befand, um so weniger konnte im Durcheinandertal das Dorf, ein Genist von alten, baufälligen Häusern, von seinem Aufenthalt wissen. Der Glaube an ihn wäre sonst wieder etwas aufgeflackert. Jetzt schrieben nur einige Weiblein hin und wieder seitenlange Ergüsse, aber es war fraglich, ob die Briefe auf den Gesellschaftsinseln, in Nieder-Kalifornien, in Westaustralien, ja gar auf dem König-Haakon-Plateau der Antarktis ankamen, wohin sie adressiert waren, sie wurden weder zurückgeschickt noch beantwortet. So vermochte denn auch die alte Witwe Hungerbühler ihren täglichen einseitigen Briefwechsel nur aufrechtzuerhalten, weil sie die einzige wohlhabende, wenn nicht gar reiche Frau im Dorfe war. Ihr Mann, Ivo Hungerbühler, hatte vor vier Jahrzehnten seine Schuhfabrik im Sankt-Gallischen verkauft und war der einzige gewesen, der im Dorf eine Villa gebaut hatte, die sich nur schwer ins Tal einfügte. Den Schuhfabrikanten hielten alle für verrückt, wer zog schon in dieses Dorf und baute sich eine Villa. Daß er verrückt war, zeigte sich nach der Einweihung des Hauses, die sehr harmonisch verlief, sah man von der Tatsache ab, daß Frau Babette Hungerbühler ihrem Gatten eine Szene machte, als er mit der Zigarre ein Loch in den alten Kirman brannte. Sie sagte vor allen Gästen zu ihm: »Aber, aber Vati.« Kaum hatten sich 6
    die letzten Gäste verzogen, knüpfte er seine Frau und dann sich am Sturz der Türe auf, die vom Salon in den Garten führte. Ein Gast, der seinen Autoschlüssel vergessen hatte, kehrte zurück und schnitt die beiden ab. Der Schuhfabrikant war tot, wobei der Arzt freilich meinte, Ivo Hungerbühler habe sich erst beim Herunterfallen das Genick gebrochen, während die Witwe zwar noch lebte, aber nicht mehr reden konnte. Seitdem schrieb sie an den Großen Alten Briefe. Das Dorf selber, bewohnt von etwa achtzig Familien, lag dem Kurhaus gegenüber auf der andern Seite der Schlucht, die der Fluß gesägt hatte. Das Tal war sonderbar verquer gestaltet. Die Sonnenseite war bewaldet, nur das Plateau mit dem Kurhaus, dem Park, dem Schwimmbad und den Tennisplätzen war frei, der Wald war steil, unten ein Tannen-, wurde er oben ein Lärchenwald und endete unter der Felswand des Spitzen Bonders, eines dolomitenartigen Kletterberges. Dagegen war die Schattenseite des Dorfes unbewaldet, einige Hütten standen weiter oben sinnlos herum, alles zu steil, um bebaut zu werden, und zu tief gelegen, um für den Wintersport in Frage zu kommen. Von den Familien, die aus dem Dorf stammten, waren nur die Pretánders und die Zavanettis etwas bekannt. Ein Pretánder war einmal Nationalrat und ein Zavanetti
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