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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Oetiker Fr. 10.15. In der Ecke ihm in der Diagonale des Raums gegenüber ein Schaukelstuhl, der noch wippte. Jemand war dagewesen. Das deckenlose Turmzimmer wurde vom Dachstuhl her beleuchtet, wo ein Balken brannte. Melker war gekommen, sich dem Urteil zu unterwerfen, aber niemand fällte das Urteil. Nicht über seine Morde. Den Flammen war es gleichgültig, wen sie verschlangen, sie würden einmal alles verschlingen. Was er suchte, war einen Urteilsspruch über sich und den Großen Alten. Der Zweikampf hatte in der Pilgermissionsanstalt angefangen. Er war mit dem Gott seiner Jugend nach Sankt Chrischona gekommen, den er aus teils geträumten, teils wirklichen Elementen geformt hatte, aus seinem unbekannten katholischen Vater, der in einer Märznacht mit geflickten Socken zu seiner unbekannten evangelischen Mutter geschlichen war, sowie aus seinen betrunkenen, sich prügelnden Pflegeeltern und dem Gefühl, vor ihren Schlägen in wunderbarer, glücklicher Sicherheit zu sein.
    Unten explodierte der Feuerwagen. Der Ostturm erzitterte.
    Dazu kam die ungeheure, nie gestillte Sinnlichkeit, die schon im jungen Melker tobte, die er dem Gott zuschrieb, den er zusammenphantasiert hatte: Seine eigene Sinnlichkeit war nur ein Abglanz der Sinnlichkeit dessen, der ohne sie die Welt nie erschaffen hätte und die Welt vielleicht nur erschaffen hatte, um sie in dem schier unendlichfachen Entstehen und Zugrundegehen des Erschaffenen zu spüren. Das Kurhaus krachte zusammen, und mit ihm brachen von Kücksen, Oskar 116
    und Edgar in die feurige Masse hinab. Melker hörte ihr Schreien. Schöpfung und Vernichtung der Schöpfung als Orgasmus. In der Pilgermissionsanstalt lernte Moses Melker einen anderen Gott kennen, den Gott der Theologie mit Eigenschaften wie Unsterblichkeit, Allmächtigkeit, Allwissenheit und mit allen Attributen der Vollkommenheit derart ausgestattet, daß er unvorstellbar wurde. Nur der Ostturm stand noch. Der brennende Balken fiel herunter, glühte auf und zerbrach, verkohlt, im Turmgestühl begannen zwei Balken aufzulodern. War Moses Melker ein Teil der Sinnlichkeit Gottes gewesen, wurde er nun von ihr getrennt.
    Gott wurde zu einer bloßen Idee. Der Schaukelstuhl hörte nicht auf zu wippen. Zurück blieben Melkers Bewußtsein seiner Häßlichkeit und seine Sinnlichkeit, zurück blieb eine Hölle.
    Eine Stichflamme schoß zwischen Moses Melker und dem Tisch mit den drei Stühlen hoch, schoß hinauf, erfaßte den Dachstuhl. Moses Melker suchte einen Menschen, Gottes Sohn. Doch wieder spielte ihm die Theologie einen Streich: Sie idealisierte den Sohn Gottes. Die Huren und Zöllner wurden ihm weggedacht, bei denen er sich wohlgefühlt, deren Witze und Zoten er gehört und auch darüber gelacht hatte, er wurde nie als Mensch ernst genommen, sondern nur als Gott, der den Menschen spielte, weil er ein Gott war, der nie bei Weibern liegen durfte. Schwarzer Rauch quoll aus dem Fußboden, durch den er den brennenden Tisch und die Stühle kaum noch sah.
    Gottes Sohn wurde etwas Abstraktes, abstrakter noch als der Vater, aber auch etwas Kitschiges, ein Marzipanheiland am Kreuz. »Steig herunter«, rief Melker zu ihm, » ein Gott, der sich kreuzigen läßt, spielt Theater, Oberammergau oder Hollywood, die beiden Schacher sind glaubhafter als du, es sind Menschen, die da gekreuzigt werden.« Ein tosendes Prasseln, Knacken und Bersten war um Moses Melker, ein Geheul verbrennender Bauern und Verbrecher. Durch all die 117
    Legenden und Wundergeschichten hindurch ahnte Moses Melker einen Menschen, einen Juden aus Galiläa, Sohn eines Zimmermanns, zerlumpt, mit dreckigen Füßen, einen Menschen, der so war wie er, dick wie er, mit wulstigen Lippen und krausem Bart, sündig wie er, der ihn erkennen würde, seine Gier nach Reichtum und seine Scham über den Mordweg, den er einschlagen mußte, um reich zu werden, der ihm sagen würde, denk dir keinen Gott mehr aus, dann brauchst du dir auch keine Hölle auszudenken. Der Mensch braucht den Menschen und keinen Gott, weil nur der Mensch den Menschen begreift. Die Wand mit dem Fenster brannte, ein Feuerteppich. Er stieg nicht vom Kreuz, er wurde zu einem Gott mit Bart, zum Großen Alten, der Moses Melkers Zwiespalt löste: Als armem Moses gehörte ihm das Himmelreich, als reichem Moses fiel es ihm aus Gnade zu.
    Moses Melker kam auf seine Theologie, die Multimillionäre und Witwen von Multimillionären dazu verführte, Nachttöpfe zu leeren, einen ungenießbaren Fraß zu kochen und in Armut
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