Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
Vom Netzwerk:
Vorschlag zu machen. Worüber denn?
    wollte der Gemeindepräsident wissen. Über die im Kurhaus, antwortete Marihuana-Joe. Die seien in der Klemme und er auch. Bevor er hierher gekommen sei, habe er in einem Penthouse über dem Hudson einen Mann töten müssen, von dem er geglaubt habe, es sei sein Chef, aber vielleicht sei es gar nicht sein Chef gewesen, sondern einer, dessen Gesicht operiert worden sei, damit er glauben sollte, er habe seinen Chef getötet und in den Kamin gesteckt. Er kapiere nichts, sagte der Gemeindepräsident. Er auch nichts mehr, stimmte Marihuana-Joe zu. Er sei berühmt, das dürfe er ruhig behaupten, aber Big-Jimmy sei fast ebenso berühmt. Und nun habe man ihm die Visage Big-Jimmys gegeben, jetzt gebe es zwei Big-Jimmys.
    Eigentlich gebe es ihn, Marihuana-Joe, den Pretánder Sepp, gar nicht mehr. Eigentlich, gab der Gemeindepräsident zu. Dann müsse der Gemeindepräsident auch verstehen, erklärte Marihuana-Joe, warum er sich den Kopf zerbreche, warum man sein Gesicht so operiert habe, daß es wie jenes von Big-Jimmy aussehe. Zwei Big-Jimmys könne es nicht geben, sondern nur einen. Logisch, sagte der Gemeindepräsident.
    Wenn man einen Big-Jimmy töte, sagte Marihuana-Joe, gebe es immer noch einen Big-Jimmy. Kompliziert, sagte der Gemeindepräsident. Er sei überzeugt, sagte Marihuana-Joe, daß man ihn zu Big-Jimmy gemacht habe, um ihn zu beseitigen und nicht Big-Jimmy, als Marihuana-Joe sei er ja schon durch die Gesichtsumwandlung beseitigt. Darum sei er zu ihm 104
    gekommen, ein Pretánder zu einem anderen Pretánder, der Gemeindepräsident müsse ihm helfen, und damit sei auch dem Dorf geholfen. Elsi brachte den Kaffee-fertig.
    In der Kirche sah es trostlos aus. Durch das beschädigte Dach funkelten Sterne, erloschen in den heranfegenden Wolken. Der Raum wurde notdürftig von einer herabhängenden Glühbirne erhellt. Die Mauer zur Sakristei war zusammengestürzt. Hinter ihr baumelte vom Turm ein Seil herunter. Der Gemeindepräsident kletterte auf den Schutt der zusammengestürzten Mauer, begann am Seil zu ziehen, im Turm begann eine Glocke zu bimmeln, dünn, die Feuerglocke. Aus den Häusern kroch es heraus, rückte heran. Marihuana-Joe bestieg die Kanzel, brach auf der Treppe mit einem Bein ein, eine Stufe höher mit dem andern, auf der letzten Stufe mit beiden, stemmte sich hinauf. Langsam füllte sich die Kirche. Es war so dunkel, daß man einander kaum sah. Marihuana-Joes Stimme kam wie aus einem verhangenen Himmel, um so unheimlicher, weil im Föhnsturm, der immer mächtiger wurde, sein Gesicht im Licht der Glühbirne aufleuchtete, die hin und her schwankte. Marihuana-Joes Gesicht glühte auf und erlosch, glühte wieder auf und erlosch. Immer wieder. Sein Vater, hörten die Versammelten, die sich in der halb abgedeckten Kirche eng aneinanderdrängten, wie vom wütenden Sturm zusammengepreßt, sein Vater, der Pfarrer, Emanuel Pretánder, habe jedes Jahr um diese Zeit seine Heiligabend-Andacht gehalten, hier auf der Kanzel wo er jetzt stehe, sein Sohn Sepp, und wo jetzt ein Haufen Steine und Mörtel liege, habe ein Weihnachtsbaum gestanden, mit Äpfeln, bunten Kugeln und vielen Kerzen. Und sein Vater habe ihnen das Weihnachtsevangelium gepredigt: Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren, vierzig 105
    Jahre habe er ihnen das gepredigt, der schlechtbesoldetste Pfarrer im hintersten Dorf im Kanton, und habe es genützt? Die Toten seien leichter zu erwecken als sie da unten aus ihrer Faulheit und Bequemlichkeit. Die Kirche sei zusammengekracht, das Pfarrhaus sei zusammengekracht, wo er geboren sei, das Dorf sei am Zusammenkrachen, und einen Tannenbaum hätten sie auch nicht mehr. Wenn er sie da unten in diesem jämmerlichen Licht sehe, komme es ihm vor, als rede er zu einem Feld von Kabisköpfen. Unten klebten sie aneinander, Leib an Leib, Männer und Weiber, schwitzend in der trockenen Wärme der Luftmassen. Sie hörten zu durch das Heulen und Toben, wie sie noch nie zugehört hatten. Wer zu ihnen redete, war einer von ihnen. Des alten Pfarrer Pretánders Sepp. Und was Sepp redete, war die Wahrheit. Sie tat weh, die Wahrheit, sie verbrannten in ihr wie in der Hölle. Sie hätten Sepp von der Kanzel reißen mögen, verhauen, zerkratzen, erdrosseln mögen, aber er hatte recht, sie waren dumpf, faul, vertrottelt. Was seien sie doch einmal für tolle Kerle gewesen, hörten sie ihn von der morschen, wurmstichigen Kanzel herunter. Sie hätten die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher