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Durcheinandertal

Durcheinandertal

Titel: Durcheinandertal
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Kantonstierarzt gewesen. Jetzt hieß nur der Gemeindepräsident Pretánder, vor langen Jahren noch der Pfarrer, der mit leiser Stimme Gottes Wort verkündet hatte. Wie solle einer dieses verstehen, wenn er Pretánder nicht verstehe, hatte achselzuckend der Kantonale Kirchenpfleger geseufzt, ihn aber gelassen. Doch nach des alten Pretánders Tod meldete sich niemand mehr, so daß einmal im Monat einander abwechselnde Pfarrherren aus dem Kanton vor leeren Bänken predigten, in denen nur hin und wieder ein Kurgast saß. Die alte schiefe, regendurchlässige Kirche war zu unbedeutend, um unter Denkmalschutz zu kommen, und zu leer, um renoviert werden zu müssen, 7
    während der Bischof in der Kantonshauptstadt mit dem Gedanken spielte, bei der Kurhausquelle eine Wallfahrtskapelle zu errichten, trotz der stockprotestantischen Gegend. Der Kurhausdirektor und -besitzer Göbeli garantierte ein Wunder, seine Tochter hinke bereits, doch Rom winkte ab.
    So wurde eine katholische Kapelle nicht gebaut und die protestantische Kirche langsam abmontiert, brauchte man Holz.
    Und man brauchte Holz, lebten doch viele davon, daß sie alte Bauernkommoden, Schränke und Stühle verfertigten, aber auch Spazierstöcke und Hirsche, in großer Ausführung als Schirmständer zu benutzen, in kleiner als Aschenbecher, ans Geweih konnte man bei den großen die Hüte hängen, bei den kleinen die Asche abstreifen. An die Kirche schmiegten sich das verfallene Pfarrhaus, an das lehnten sich die Dorfpinten
    ›Zum Spitzen Bonder‹, ›Zum Eidgenossen‹, ›Zur Schlacht am Morgarten‹, ›Zum General Guisan‹ und ›Zum Hirschen‹. Im Genist der Häuser waren nur die Konfiserien, die Garage, der Hof des Gemeindepräsidenten und das Feuerwehrdepot intakt.
    Die Konfiserien, weil sie das Kurhaus mit Brot und Brötchen, Semmeln und Hörnchen versorgten und sich in ihren Tea-Rooms die vielen Diabetiker, die seit jeher einen Teil der Sommergäste ausmachten, ungenierter mit Süßigkeiten vollstopften, als das im Kurhaus schicklich gewesen wäre; die Garage, weil die Abgelegenheit des Kurhauses einen Taxistand notwendig machte; der Hof des Gemeindepräsidenten, weil dieser die Milch lieferte, sommers mit einem Karren, winters mit einem Schlitten, gezogen vom kurzhaarigen Hundeungetüm, schwarz mit weißer Brust und mächtigem Kopf. Der Gemeindepräsident wußte nicht, woher das Vieh stammte. Niemand wußte es, und es hatte auch niemand je so ein Tier gesehen. Es war auf einmal da, als Pretánder den Stall betrat, und schmiegte sich so heftig an ihn, daß er hinfiel.
    Der Gemeindepräsident fürchtete sich auch zuerst vor dem 8
    Hund, gewöhnte sich aber an ihn und konnte endlich nicht mehr ohne ihn leben. Das Feuerwehrdepot endlich war noch brauchbar, weil es eine vom Kanton gespendete moderne Motorfeuerspritze enthielt. Nicht um das Dorf zu schützen, da hätte der Kantonalen Feuerpolizei die alte Handpumpenspritze vollauf genügt, sondern des Kurhauses wegen, wozu das Kantonale Tiefbauamt dessen Hauptgebäude mit seinen zwei mit je einem Turm ausgestatteten Nebenflügeln mit Hydranten umstellt hatte. Das Dorf lebte vom Kurhaus, stellte ihm den Sommer über das nötige Personal für Wäscherei, Roomservice, Liftboys, Kofferträger, Gärtnerei und Parkdienst, Kutschenfahrten und 1.-August-Feier (Pyramide des Turnvereins) und wurde von Kurgästen durchstöbert, die, was das Dorf produzierte, als Heimatkunst abschleppten. Stand das Kurhaus im Winter leer, sank das Dorf in seine Bedeutungslosigkeit zurück.
    Moses Melker hatte sich an den Gott ohne Bart, am Abend bevor dieser aus dem Kurhaus verschwand, mit seinem Anliegen herangemacht. Genauer gegen Mitternacht. Der Große Alte saß neben seinem Sekretär und betrachtete die Gesellschaft, die sich angesammelt hatte, nicht eigentlich reich, aber wohlhabend, alle gesundheitlich angeschlagen, tapfere herumhumpelnde Skisportgeschädigte, alte, im Tanz sich drehende oder müde in den Polstersesseln versunkene Paare, während die drei Tschechen, die jede Saison kamen und denen das Kurhaus, das Dorf samt dem Durcheinandertal und dem Spitzen Bonder längst zum Halse heraushingen, gleichsam im Tiefschlaf weiterspielten und nach den letzten Tangos und sogar Boogie-Woogies ein Schubert-Potpourri anstimmten, ›Im Bache die Forelle‹, ›Leise flehen meine Lieder‹, ›Das Wandern ist des Müllers Lust‹, ›Ave Maria‹. Melker glich einem weißen 9
    Buschneger, war kleingewachsen, hatte wulstige Lippen und einen
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