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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Autoren: Luanne Rice
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vom Alter silbrigen Holzwänden der Scheune. Eine gelbe Katze schlich geduckt den Fußboden entlang, auf der Jagd nach Mäusen.
    May stand am Fenster und unterhielt sich leise mit Tobin Chadwick, ihrer ältesten und besten Freundin. Tobin war nach ihrer Heirat in Black Hall geblieben und arbeitete im Bridal Barn, seit ihr jüngster Sohn eingeschult worden war. Sie war klein und kräftig, hatte dunkle Haare und stets den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Die beiden Freundinnen unternahmen häufig gemeinsame Radtouren auf den hügeligen Landstraßen in der Umgebung, hielten sich fit, indem sie sich Meile für Meile abstrampelten und auf den geraden Strecken Wettrennen veranstalteten.
    »Jetzt erzähl schon. Fang mit Toronto an«, sagte Tobin, »oder mit der Notlandung. Ich kann nicht glauben, was du gestern alles erlebt hast.«
    »Ja, der Tag war ziemlich turbulent.« May rieb sich den geprellten Ellenbogen.
    »Was haben sie gesagt, ich meine die Psychologen?«
    »Sie haben alle möglichen Tests mit ihr gemacht. Sie haben ihr zum Beispiel zwei Karten gezeigt, eine rote und eine blaue, sie dann gemischt und mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch gelegt; dann musste sie sagen, welche die rote und welche die blaue ist. Immer wieder.«
    »Klingt mehr nach einem Spielcasino.« Tobin runzelte die Stirn.
    »Das Gefühl hatte ich auch. Sie musste versuchen, Zahlenfolgen zu erraten, zuerst auf Papier, dann auf einer Ouijatafel – du weißt schon, diese Tafeln für spiritistische Sitzungen. Sie hat nicht ein Mal daneben getippt, kein einziges Mal! Dann haben sie ihr einen Kugelschreiber gegeben und gesagt, sie solle mit links schreiben –«
    »Sie ist doch Rechtshänderin.«
    »Ich weiß. Sie nannten es ›Geisterschrift‹.«
    »Hatte sie denn Kontakt mit Geistern?«, fragte Tobin mit einem leichten Lächeln. Manchmal wusste sie nicht, was sie davon halten sollte. Den meisten Menschen, Tobin eingeschlossen, kam es absonderlich vor, dass eine namhafte Universität eine Abteilung hatte, die übersinnliche Phänomene erforschte, und noch merkwürdiger war, dass Mays Tochter an der Studie teilnahm. May, in deren Familie Heilkräuter, Rosen und Liebeszauber seit Generationen gang und gäbe waren, mochte das alles weniger rätselhaft erscheinen.
    »Nicht, solange wir in der Universität waren, aber im Flugzeug –«
    »Was ist passiert?«
    »Sie schien eher als alle anderen zu wissen, dass es ein Problem mit der Maschine gab. Sie behauptete, sie hätte einen Engel gesehen. Sie ging schnurstracks auf einen dieser Männer zu«, Mays Blick schweifte ab und verlor sich in der Ferne, als sie sich an den Blick des Mannes erinnerte. »Sie bat ihn, uns zu helfen, wenn es an der Zeit sei. Sie erklärte ihm, seine Tochter habe ihr gesagt –«
    »Seine Tochter?«
    »Sie ist tot.« Als May zu der Braut mit ihrem Gefolge hinübersah, konnte sie erkennen, dass wohl endlich eine Entscheidung gefallen war: Die Frauen hatten offenbar eine Vorlage in dem Katalog gefunden, die ihnen gefiel. Die Braut winkte May zu und sie winkte zurück. Bei dem Gedanken an Kylie krampfte sich ihr Magen zusammen: Was war, wenn sie keine übersinnlichen Kräfte besaß, eine Gabe in ihrer Familie, sondern an Schizophrenie litt?
    »Sie hat eine lebhafte Fantasie«, erwiderte Tobin einfühlsam. »Das ist alles.«
    »Sie spricht mit Menschen, die gar nicht da sind.«
    »Das hat deine Großmutter auch getan, sie hat jedenfalls Selbstgespräche geführt. Und erinnerst du dich an die Zeit, als wir Kinder waren? Immer, wenn wir Bücher über Kinder mit unsichtbaren Freunden lasen, wünschten wir uns, wir hätten auch welche.«
    »Wir hatten uns.«
    Tobin umarmte sie. »Sie ist kein Versuchskaninchen, das in eine Studie gehört. Das weißt du so gut wie ich. Sie hat einen Schock erlitten, als ihr auf die Leiche im Lovecraft gestoßen seid.«
    »Ich weiß.«
    »Ich würde Alpträume haben, wenn mir das passiert wäre, und sie war erst vier.« Tobin erschauerte. »Ich wundere mich, dass sie dich nicht auch unter die Lupe nehmen. Du warst ja dabei, hast das Skelett ebenfalls gesehen.«
    »Ja.« May schloss die Augen und sah wieder den grinsenden Schädel mit dem weit aufgerissenen Mund vor sich, der sie anzuflehen schien, etwas zu tun. Kylie hatte Träume, in denen Totenköpfe vorkamen, die sie um Hilfe baten. May öffnete die Augen, blickte Tobin an.
    »Das wird vorbeigehen, sie macht nur eine Entwicklungsphase durch«, fuhr ihre beste Freundin fort. »Es ist ein
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