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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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Unzufriedenheit befindet, sondern Ihrer Herrschaft auch jeden Anschein von Glaubwürdigkeit abspricht. Sie können hin und wieder ein paar Leute einsperren, aber nicht ständig alle. Regierungen, die sich derart in Misskredit gebracht haben, können sich zwar längere Zeit halten – denken Sie an Burma oder Simbabwe –, am Ende aber können selbst Tyrannen die Schrift an der Wand nicht mehr ignorieren. Mochte das Apartheidsystem in Südafrika auch noch so grausam und mörderisch sein, schließlich musste es einsehen, dass es so nicht weitermachen konnte. Gleiches gilt für die Diktaturen in Polen, der DDR , in Rumänien und den anderen Ostblockstaaten Ende der 1980 er Jahre. Es gilt auch für viele heutige Ulster-Unionisten, die nach Jahren des Blutvergießens zur Einsicht gezwungen sind, dass sich ihre Ausgrenzung katholischer Staatsbürger nicht länger durchführen lässt.
    Doch warum optieren Marxisten für die Revolution statt für die parlamentarische Demokratie und die Sozialreform? Die Antwort lautet: Das tun sie gar nicht – oder zumindest nicht ausschließlich. Nur die Ultralinken haben sich die Revolution auf die Fahne geschrieben. 127 In einem ihrer ersten Erlasse nach der Machtübernahme in Russland schafften die Bolschewiki die Todesstrafe ab. Reformist oder Revolutionär zu sein, das heißt nicht, entweder Fan von Everton oder von Arsenal zu sein. Die meisten Revolutionäre sind auch Befürworter von Reformen. Nicht von jeder früheren Reform und nicht vom Reformismus als politischem Allheilmittel; aber Revolutionäre erwarten von der sozialistischen Veränderung nicht, dass sie – im Gegensatz zur feudalen oder kapitalistischen – Knall auf Fall kommt. Sie unterscheiden sich von den eigentlichen Reformisten nicht darin, dass sie sich weigern, gegen, sagen wir, Krankenhausschließungen zu kämpfen, weil solche Kämpfe die Aufmerksamkeit von der alles entscheidenden Revolution ablenken würden. Sie betrachten solche Reformen nur unter einem weiterreichenden, radikaleren Blickwinkel. Reformen sind sehr wichtig, aber früher oder später kommen sie an einen Punkt, wo das System sich weigert, weiter nachzugeben – das heißt, sie stoßen an die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, wie sie im Marxismus genannt werden. Weniger politisch-terminologisch: Eine herrschende Klasse, welche die materiellen Ressourcen kontrolliert, gibt sie nicht so einfach aus der Hand. Erst dann müssen sich die Beteiligten zwischen Reform und Revolution entscheiden. Schließlich kann man, wie der sozialistische Historiker R. H. Tawney einmal schrieb, eine Zwiebel zwar Schicht um Schicht schälen, aber keinen Tiger Tatze um Tatze häuten. Doch der Vergleich mit dem Zwiebelschälen lässt Reformen etwas zu einfach erscheinen. Die meisten Reformen, die heute als wertvolle Errungenschaften der liberalen Gesellschaft gelten – allgemeines Wahlrecht, freie Bildung für alle, Gewerkschaften und so fort –, hat das Volk gegen den wütenden Widerstand der herrschenden Klasse errungen.
    Auch lehnen Revolutionäre die parlamentarische Demokratie nicht unbedingt ab. Wenn diese zu ihren Zielen beitragen kann, umso besser. Allerdings haben Marxisten gewisse Vorbehalte gegenüber der parlamentarischen Demokratie – nicht weil sie demokratisch ist, sondern weil sie es nicht in ausreichendem Maße ist. Parlamente sind besondere Einrichtungen: Gewöhnliche Menschen werden dort veranlasst, ihre Macht auf Dauer an die Parlamente zu delegieren, so dass sie kaum noch irgendwelchen Einfluss haben. Im Allgemeinen glaubt man, die Revolution sei das Gegenteil von Demokratie – das Werk finsterer Untergrundminderheiten, die entschlossen sind, sich über den Willen der Mehrheit hinwegzusetzen. Tatsächlich ist sie als Prozess, in dessen Verlauf die Menschen mittels Volksräten und -versammlungen Macht über ihre Leben gewinnen, erheblich demokratischer als alles, was gegenwärtig im Angebot ist. In den Reihen der Bolschewiki gab es eine stattliche Zahl offener Kontroversen, und die Vorstellung, sie würden das Land als einzige politische Partei beherrschen, gehörte ursprünglich nicht zu ihrem Programm. Abgesehen davon ist das Parlament, wie wir noch sehen werden, Teil eines Staates, der im Großen und Ganzen seine Aufgabe darin sieht, die Herrschaft des Kapitals über die Arbeit zu sichern. Das ist nicht nur die Meinung von Marxisten. Im 17 . Jahrhundert schrieb ein Zeitzeuge, das englische Parlament sei ein »Bollwerk des
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