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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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    Sicherlich können Reform und Sozialdemokratie eine Revolution abwenden. Marx lebte zwar lange genug, um die Anfänge dieses Prozesses im viktorianischen Großbritannien zu beobachten, aber nicht lange genug, um sein ganzes Ausmaß zu erfassen. Solange eine Klassengesellschaft ihren Lakaien genügend Brocken und Reste hinwirft, kann sie sich vermutlich in Sicherheit wiegen. Wenn ihr das nicht mehr gelingt, ist es sehr wahrscheinlich (wenn auch keineswegs sicher), dass die Leute am unteren Ende der Hierarchie versuchen werden, die Macht zu übernehmen. Warum auch nicht? Wie könnte es denn noch schlimmer kommen, da es nicht einmal mehr Brocken oder Reste gibt? Wer an diesem Punkt auf eine alternative Zukunft setzt, trifft eine außerordentlich vernünftige Entscheidung. Mag die Vernunft der Menschen auch die Lage nicht restlos erfassen, so reicht sie doch aus, um ihnen zu sagen, dass es ihnen fast mit Sicherheit zum Vorteil gereichen wird, wenn sie die Gegenwart für die Zukunft aufgeben.
    Die Frage, wer den Kapitalismus stürzt, ist in gewisser Weise überflüssig. Der Kapitalismus ist durchaus in der Lage, an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde zu gehen. Tatsächlich war er vor wenigen Jahren kurz davor. Das Ergebnis einer vollständigen Implosion des Systems dürfte eher Barbarei als Sozialismus sein, wenn es keine organisierte politische Kraft gibt, um eine Alternative zu bieten. Eine solche Organisation ist also im Fall einer umfassenden Kapitalismuskrise unbedingt erforderlich, damit weniger Menschen Schaden erleiden und sich aus den Ruinen ein neues System zum Nutzen aller errichten lässt.
    124 Isaac Deutscher, Stalin , Reinbek 1992 , S. 224 .
    125 Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, Gesammelte Schriften , Bd. 1 . 3 , Frankfurt/M. 1974 , S. 1232 .
    126 Gilbert Keith Chesterton, Orthodoxie , Frankfurt/M. 2001 , S. 97 .
    127 In den militanten 1970 er Jahren prüfte man gelegentlich die Reinheit der Überzeugungen eines Sozialisten, indem man diesem Fragen stellte wie »Würdest du einen bürgerlichen Gerichtshof anrufen, wenn dein Partner ermordet worden wäre?« oder »Würdest du für die bürgerliche Presse schreiben?«. Die wahren Puristen oder Ultralinken waren jedoch die Leute, die mit einem eindeutigen Nein antworteten, wenn sie gefragt wurden, »Würdest du die bürgerliche Feuerwehr rufen?«.
    128 Zitiert in: Christopher Hill, God’s Englishman: Oliver Cromwell and the English Revolution , London 1990 , S. 137 .

Schluss
    Das war’s also. Marx glaubte leidenschaftlich an das Individuum und hegte tiefen Argwohn gegen abstrakte Lehren. Er hatte nichts für die Idee einer vollkommenen Gesellschaft übrig, misstraute dem Gleichheitsbegriff und träumte nicht von einer Zukunft, in der wir alle in Overalls mit unserer Sozialversicherungsnummer auf dem Rücken herumlaufen. Er hoffte auf Vielfalt, nicht Einförmigkeit. Auch lehrte er nicht, dass die Menschen das hilflose Spielzeug der Geschichte seien. Er stand dem Staat noch ablehnender gegenüber als rechte Konservative und erwartete vom Sozialismus eine Stärkung und keine Schwächung der Demokratie. Sein Modell des guten Lebens beruhte auf dem Gedanken des künstlerischen Selbstausdrucks. Er glaubte, dass einige Revolutionen friedlich verlaufen könnten und hatte nichts gegen soziale Reformen. Weder war er einseitig auf die Arbeiterklasse fixiert, noch war sein Gesellschaftsbild von zwei extrem polarisierten Klassen bestimmt.
    Er machte keinen Fetisch aus der materiellen Produktion. Ganz im Gegenteil, er glaubte, sie sollte so weit wie möglich beseitigt werden. Sein Ideal war Muße, nicht Arbeit. Wenn er seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Wirtschaft richtete, dann, um ihre Macht über die Menschheit zu verringern. Seinen Materialismus vermochte er durchaus mit tiefen moralischen und geistigen Überzeugungen zu vereinbaren. Er war voll des Lobes für die Mittelklasse und sah den Sozialismus als Erben ihrer großen Errungenschaften: Freiheit, Bürgerrechte und materieller Wohlstand. Mit seinen Anschauungen über Natur und Umwelt war er seiner Zeit in vielen Punkten erstaunlich weit voraus. Nie hat es einen entschiedeneren Befürworter von Frauenemanzipation, Weltfrieden, Kampf gegen Faschismus und für Befreiung der Kolonialvölker gegeben als die politische Bewegung, die durch sein Werk ins Leben gerufen wurde.
    Ist irgendein Philosoph jemals so entstellt worden?
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