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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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Ursprünge sind gewöhnlich traumatisch, gleich, ob es sich um Individuen oder politische Staaten handelt. Im Kapital erinnert uns Marx daran, dass der moderne britische Staat, der auf der intensiven Ausbeutung der zu Proletariern mutierten Bauern beruht, bei seiner Entstehung Blut und Schmutz aus jeder Pore schwitzte. Das ist einer der Gründe, warum er entsetzt gewesen wäre, hätte er erlebt, wie Stalin die Verstädterung der russischen Bauern erzwang. Die meisten politischen Staaten entstanden durch Revolution, Invasion, Besetzung, Usurpation oder (im Fall von Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten) durch Vernichtung. Erfolgreich sind Staaten, wenn es ihnen gelingt, diese blutige Geschichte aus dem Bewusstsein ihrer Bürger zu löschen. Staaten, deren unrechtmäßige Ursprünge dafür noch nicht lange genug zurückliegen – Israel und Nordirland zum Beispiel –, werden in der Regel von politischen Konflikten heimgesucht.
    Wenn wir also das Produkt einer über die Maßen erfolgreichen Revolution sind, dann sind wir damit zugleich der lebende Gegenbeweis der konservativen Behauptung, am Ende würden alle Revolutionen scheitern, wieder in den vorherigen Zustand zurückfallen, die Situation tausendmal schlimmer machen oder die eigenen Kinder fressen. Vielleicht habe ich die entsprechenden Nachrichten in der Zeitung übersehen, aber meines Wissens wurde weder in Frankreich die Macht der Aristokratie noch in Deutschland die der Landjunker wiederhergestellt. Gewiss, Großbritannien hat mehr feudale Überbleibsel als die meisten modernen Staaten – vom House of Lords bis zum Black Rod –, doch das liegt vor allem daran, dass sie sich als dienlich für die Herrschaft der Mittelklassen erwiesen haben. Wie die Monarchie erzeugen sie einen gewissen Nimbus, von dem man annimmt, er versetze die Masse der Menschen in einen nützlichen Zustand der Ehrfurcht und Ergriffenheit. Wenn die meisten Briten nicht unbedingt das Gefühl haben, Prinz Andrew verströme eine faszinierende Aura von Macht und Geheimnis, so lässt das darauf schließen, dass es zuverlässigere Methoden gibt, um die eigene Bedeutung zu erhöhen.
    Gegenwärtig würden sich wohl die meisten Menschen im Westen als Revolutionsgegner bezeichnen. Was wahrscheinlich bedeutet, dass sie gegen einige Revolutionen und für andere sind. Die Revolutionen anderer sind – wie im Restaurant die Speisen anderer – oft attraktiver als die eigenen. Zweifellos würden die meisten dieser Leute die Revolution billigen, welche Ende des 18 . Jahrhunderts die britische Macht in Amerika brach, oder gutheißen, dass Kolonialländer wie Irland, Indien, Kenia und Malaysia endlich ihre Unabhängigkeit errungen haben. Auch wird wohl kaum jemand von ihnen bittere Tränen über den Zusammenbruch des Sowjetblocks vergossen haben. Trotzdem waren alle diese Aufstände gewaltsam – einige in weitaus höherem Maße als die bolschewistische Revolution. Wäre es da nicht ehrlicher, offen zu bekennen, dass man etwas gegen die sozialistische Revolution und nicht gegen Revolutionen im Allgemeinen hat?
    Es gibt natürlich eine kleine Minderheit – die Pazifisten –, die jede Art von Gewalt ablehnen. Ihre Furchtlosigkeit und Prinzipientreue – oft angesichts öffentlicher Schmähungen – sind höchst bewundernswert. Aber Pazifisten sind nicht nur Menschen, die Gewalt verabscheuen. Von einer kleinen Anzahl Sadisten und Psychopathen abgesehen, tun wir das alle. Damit der Pazifismus seine Bezeichnung verdient, muss mehr dahinterstecken als die fromme Beteuerung, dass der Krieg verabscheuenswürdig sei. Beispiele, denen fast jeder zustimmen würde, sind langweilig, so vernünftig sie auch sein mögen. Der einzige Pazifist, mit dem sich eine ernsthafte Auseinandersetzung lohnt, ist derjenige, der jede Form von Gewalt radikal ausschließt. Und das heißt, nicht nur Kriege und Revolutionen abzulehnen, sondern auch sich zu weigern, einem entflohenen Mörder einen kräftigen Schlag auf den Kopf zu versetzen – kräftig genug, um ihn zu betäuben, aber nicht, um ihn umzubringen –, wenn er im Begriff ist, seine Maschinenpistole auf ein Klassenzimmer voller kleiner Kinder zu richten. Jeder, der dazu in der Lage gewesen wäre, es aber nicht getan hätte, wäre auf der nächsten Schulversammlung in erheblicher Erklärungsnot. In der strengen Bedeutung des Wortes ist Pazifismus höchst unmoralisch. Fast alle sind der Meinung, dass in extremen Ausnahmesituationen Gewaltanwendung notwendig
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