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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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sei. Die Charta der Vereinten Nationen erlaubt den bewaffneten Widerstand gegen eine Besatzungsmacht. Allerdings ist es angebracht, jede derartige Aggression von strengen Bedingungen abhängig zu machen: Sie muss defensiv sein, muss das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen versucht worden und gescheitert sind, muss die einzige Möglichkeit sein, ein größeres Übel zu verhindern, muss die Verhältnismäßigkeit berücksichtigen, muss eine vernünftige Aussicht auf Erfolg haben, darf den Tod unschuldiger Zivilisten nicht billigend in Kauf nehmen und so fort.
    In seiner kurzen, aber blutigen Karriere hat der Marxismus eine schreckliche Anzahl von Gewalttaten verursacht. Stalin wie Mao Zedong waren Massenmörder in fast unvorstellbarem Maßstab. Doch wie gesehen, wären heute nur sehr wenige Marxisten geneigt, diese schrecklichen Verbrechen zu verteidigen, während viele Nichtmarxisten durchaus bereit wären, etwa die Zerstörung von Dresden oder Hiroshima zu rechtfertigen. Ich habe bereits dargelegt, dass die Marxisten überzeugender als die Anhänger irgendeiner anderen politischen Anschauung erklären können, wie es zu den Gräueltaten von Männern wie Stalin gekommen ist, und daher auch, wie sich eine Wiederholung verhindern ließe. Aber wie steht es mit den Verbrechen des Kapitalismus? Was ist mit dem entsetzlichen Blutbad des Ersten Weltkriegs, als die landhungrigen imperialen Nationen ihre Soldaten aus der Arbeiterschicht in einen sinnlosen Tod schickten? Die Geschichte des Kapitalismus ist unter anderem eine Geschichte von globalen Kriegen, kolonialer Ausbeutung, Völkermord und vermeidbaren Hungerkatastrophen. Während eine verzerrte Spielart des Marxismus den stalinistischen Staat hervorbrachte, führte eine grobe Entstellung des Kapitalismus zum Faschismus. Als in den 1840 er Jahren während der großen Hungersnot in Irland eine Million Menschen starben, lag es großenteils daran, dass die britische Regierung im Zuge ihrer jämmerlichen Hilfspolitik unbedingt die Gesetze der freien Marktwirtschaft einhalten wollte. Wir haben gesehen, wie Marx im Kapital mit kaum unterdrückter Empörung über die blutige, fortwährende Vertreibung der englischen Bauernschaft von ihrem Land berichtete. Unter der idyllischen Ruhe des englischen Landlebens verbirgt sich die Geschichte gewaltsamer Enteignung. Im Vergleich zu diesem lange währenden, entsetzlichen Geschehen war ein Ereignis wie die kubanische Revolution eine Teeparty.
    Für Marxisten gehört Antagonismus untrennbar zum Wesen des Kapitalismus. Das gilt nicht nur für den Klassenkonflikt, der ihm zugrunde liegt, sondern auch für die Kriege, die er hervorbringt, wenn kapitalistische Staaten wegen globaler Ressourcen oder imperialer Einflusssphären aneinandergeraten. Im Gegensatz dazu war eines der vorrangigsten Ziele der internationalen sozialistischen Bewegung der Frieden. Als die Bolschewiki an die Macht kamen, sorgten sie für den Rückzug Russlands aus dem Blutbad des Ersten Weltkriegs. Mit ihrer Abscheu vor Militarismus und Chauvinismus haben die Sozialisten in der neueren Geschichte eine maßgebliche Rolle in den meisten Friedensbewegungen gespielt. Der Arbeiterbewegung ging es nicht um Gewalt, sondern um deren Beendigung.
    Auch stehen Marxisten seit jeher dem sogenannten »Abenteurertum« ablehnend gegenüber, worunter sie verstehen, dass man eine kleine Gruppe Revolutionäre rücksichtslos gegen die weit überlegenen Kräfte des Staates antreten lässt. Die bolschewistische Revolution wurde nicht von einer geheimen Verschwörerclique durchgeführt, sondern von Leuten, die in den repräsentativen Institutionen der Volkssowjets saßen. Marx sprach sich entschieden gegen den lächerlich-heroischen Aufstand grimmig dreinblickender Aufrührer aus, die mit Mistgabeln gegen Kanonen vorgehen. Nach seiner Auffassung ist eine erfolgreiche Revolution auf bestimmte materielle Vorbedingungen angewiesen. Ein eiserner Wille und eine kräftige Portion Mut genügen nicht. In einer tiefgreifenden Krise, in der die herrschenden Klassen schwach und uneins, die sozialistischen Kräfte dagegen stark und gut organisiert sind, hat man offenkundig bessere Aussichten als in einer Zeit, wo die Regierung fest im Sattel sitzt, während die Opposition ängstlich und zersplittert ist. Insofern gibt es eine Beziehung zwischen Marx’ Materialismus – der Hartnäckigkeit, mit der er die in der Gesellschaft wirksamen Kräfte analysiert – und der Frage der revolutionären
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