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Warum Marx recht hat

Warum Marx recht hat

Titel: Warum Marx recht hat
Autoren: Terry Eagleton
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Gewalt.
    Die meisten Arbeiterproteste in Großbritannien, von den Chartisten-Aufständen bis zu den Hungermärschen in den 1930 er Jahren, verliefen friedlich. Generell lässt sich sagen, dass die Arbeiterbewegung nur dann Gewalt ausgeübt hat, wenn sie dazu provoziert wurde, wenn die Not sie dazu zwang oder wenn friedliche Strategien offenkundig nichts ausrichteten. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Suffragetten. Das Widerstreben der Arbeiterschaft gegen Blutvergießen steht in auffälligem Gegensatz zur Bereitschaft der Herrschenden, mit Knüppeln und Kanonen gegen sie vorzugehen. Außerdem standen den Arbeitern ja auch nicht die enormen militärischen Mittel des kapitalistischen Staates zur Verfügung. In vielen Teilen der Welt gehört es heute zum Alltag, dass ein repressiver Staat seine Waffen rücksichtslos gegen friedliche Streikende und Demonstranten einsetzt. Walter Benjamin meinte, die Revolution sei kein rasender Zug, sondern die Betätigung der Notbremse. 125 Denn der von der Anarchie der Marktkräfte getriebene Kapitalismus ist außer Kontrolle, während der Sozialismus versucht, diese tobende Bestie wieder der kollektiven Herrschaft zu unterwerfen.
    Wenn sozialistische Revolutionen gewaltsam vorgegangen sind, lag es zumeist daran, dass die besitzenden Klassen ihre Privilegien selten ohne Kampf aufgeben. Trotzdem gibt es vernünftige Gründe zu der Annahme, dass diese Gewaltanwendung auf ein Minimum eingeschränkt werden kann. Für den Marxismus ist eine Revolution nämlich nicht das Gleiche wie ein Staatsstreich oder der spontane Ausdruck von Unzufriedenheit. Revolutionen sind nicht nur der Versuch, den Staat zu stürzen. Darum könnte es bei einem rechten Militärputsch gehen, aber Marxisten verstehen etwas anderes unter einer Revolution. In der eigentlichen Bedeutung kann von einer Revolution nur die Rede sein, wenn eine soziale Klasse die Herrschaft einer anderen beendet und an ihre Stelle tritt.
    Das heißt im Fall der sozialistischen Revolution, dass die organisierte Arbeiterklasse und ihre Verbündeten die Macht von der Bourgeoisie oder der kapitalistischen Mittelklasse übernehmen. Doch Marx hielt die Arbeiterklasse für die bei weitem größte Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft. Wir sprechen hier also von den Aktionen einer Mehrheit, nicht von denen einer kleinen Bande von Rebellen. Da es im Sozialismus um die Selbstregierung des Volkes geht, kann niemand eine sozialistische Revolution delegieren, so wenig wie jemand ein gerissener Spieler werden kann, indem er das Spielen delegiert. Chesterton schreibt, die Selbstbestimmung des Volks sei »so etwas wie einen Liebesbrief schreiben oder sich die Nase schnäuzen. Bei diesen Dingen erwarten wir von jedem, daß er sie selber tut, und mag er sich noch so schlecht darauf verstehen.« 126 Mein Kammerdiener mag sehr viel geschickter darin sein, mir die Nase zu schnäuzen, aber es tut meiner Selbstachtung gut, wenn ich es selbst tue – zumindest hin und wieder (wenn ich Prinz Charles bin). Die Revolution kann Ihnen nicht von einer entschlossenen Vorhut von Verschwörern auf einem Silbertablett gereicht werden. Und auch nicht – das hat Lenin immer wieder gesagt – dem Ausland mit dem Bajonett aufgezwungen werden, wie Stalin es in Osteuropa getan hat. Man muss aktiv daran beteiligt sein – anders als die Sorte Künstler, die ihre Assistenten anweisen, einen Tigerhai in Formaldehyd einzulegen. (Zweifellos werden bald auch Schriftsteller so verfahren.) Nur so werden die Menschen, die einst weitgehend machtlos waren, die Erfahrung, das Know-how und das Selbstvertrauen erlangen, um die gesamte Gesellschaft umzugestalten. Sozialistische Revolutionen können nicht anders als demokratisch sein. Die herrschende Klasse ist die undemokratische Minderheit. Die großen Menschenmassen, die an solchen Aufständen beteiligt sind, sind die sicherste Gewähr gegen übermäßige Gewalt. Insofern sind Revolutionen, die die größte Aussicht auf Erfolg haben, zugleich diejenigen, die die größte Aussicht haben, mit einem Minimum an Gewalt auszukommen.
    Das heißt natürlich nicht, dass Revolutionen nicht heftige Reaktionen panischer, zu blutigem Terror entschlossener Regierungen auslösen können. Doch selbst autokratische Staaten müssen sich auf ein gewisses Maß an Zustimmung ihrer Bürger stützen können – mag sie auch noch so widerwillig und vorläufig sein. Sie können keine Nation regieren, die sich nicht nur in einem Zustand permanenter
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