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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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neurotischer Symptome: Es soll verhindern, daß schmerzliche Erinnerungen und Impulse bis zu unserem Bewußtsein Vordringen. Er hat diesen Gedanken verschiedentlich in Vorträgen, Artikeln und Büchern verarbeitet, zum ersten Mal 1899 in einem Artikel »Über Deckerinnerungen«. Das Beispiel des Jungen mit seiner Tante stammt aus Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901). Was wir für unsere erste Erinnerung halten, ist in Wirklichkeit eine Rekonstruktion viel späteren Datums, eine einschneidend redigierte Fassung. Das wird laut Freud schon allein aus der Tatsache deutlich, daß wir uns, wie die Henris angaben, in der Erinnerung sehen. Auf diese Weise können wir den Vorfall niemals gesehen haben, es handelt sich demnach ganz bestimmt nicht um eine wahrheitsgetreue Aufzeichnung dieses Vorfalls. Verdächtig ist auch, daß so viele dieser frühen Erinnerungen »ihre Überlebung nicht rechtfertigen«: sie drehen sich um so schlichte, beiläufige Dinge, daß es unverständlich ist, daß es das Gedächtnis für wert halten sollte, sie aufzuzeichnen. Bei näherer Überprüfung, genauer: nach einer Psychoanalyse, wird sich heraussteilen, daß jene Erinnerungen dazu dienen, andere dem Auge zu entziehen, es sind >Deckerinnerun-gen<. Genau wie Träume haben sie einen überwiegend visuellen Charakter. Sie sind über assoziative Beziehungen mit der verdrängten Erinnerung verbunden. In Freuds Exemplar von Zur Psychopathologie des Alltagslebens lag ein Blatt Papier mit Aufzeichnungen darüber, wie solche Assoziationen entstehen. So sei Eis, erklärte er, »in Wirklichkeit ein antithetisches Symbol für eine Erektion: das heißt etwas, das bei Kälte hart wird, statt - wie bei einem Penis - bei Hitze (in Erregung). Die beiden antithetischen Begriffe Sexualität und Tod werden oft durch den Gedanken miteinander verbunden, daß der Tod die Dinge steif macht. Einer der Informanten der Henris nannte ein Stück Eis als Beispiel für eine Deckerinnerung für den Tod seiner Großmutter.«
    So hätte es der arglose Informant der Henris seinerzeit selbst nicht ausgedrückt, aber das Beispiel macht deutlich, was Freud meint. Ein drei-, vierjähriges Kind ist bereits ein Wesen mit intensivem sexuellem Interesse, es hat Sehnsüchte, empfindet Begehren, sucht Befriedigung und Genuß; in späteren Jahren, wenn jene Impulse unter persönliche und gesellschaftliche Beherrschung geraten sind, erfährt es die Erinnerungen daran als schmerzlich und beschämend, und das Bewußtsein schützt sich davor, indem es sie verdrängt. Die wenigen Erinnerungsfetzen, denen es dennoch gelingt, dem Gedächtnisverlust zu entkommen und bis in unser Bewußtsein vorzudringen, verdanken dies ihrem scheinbar unschuldigen Charakter: die Tante, die auf den dritten Strich des m verweist, eine Schale mit Eis.
    Bemerkenswert - aber auch typisch für Freuds lockeren Umgang mit Beweismitteln - ist, daß das, was die Henris als Ausnahme präsentierten, bei Freud stillschweigend zu einem ausschlaggebenden Fall aufgestiegen ist.
    In »la grande majorite des cas« standen erste Erinnerungen den Henris zufolge mit Ereignissen im Zusammenhang, die heftige Gefühle hervorgerufen hatten, nur bei »quelques personnes« bezog sich die erste Erinnerung auf etwas Unwichtiges. Spätere Umfragen, wie die von Blonsky (1929), dem Ehepaar Dudycha (1933) und Waldfogel (1948), haben diesen Eindruck bestätigt. Die Studie des Pädagogen Blonsky aus Moskau ergab sich unmittelbar durch die psychoanalytische Erklärung für frühkindlichen Gedächtnisverlust, seine eigenen Beobachtungen wiesen allerdings fast in die entgegengesetzte Richtung. Blonsky sammelte 190 erste Erinnerungen seiner Studenten und entlockte ungefähr zwölfjährigen Kindern noch einmal 83 erste Erinnerungen. Die Kinder hatten frühere erste Erinnerungen als die Studenten, die zwischen zwanzig und dreißig waren. Es schien, als würden schon während der ersten zehn Jahre ihres Lebens die Erinnerungen an die Zeit vor ihrem dritten Lebensjahr verschwinden und während der zehn Jahre danach auch noch die zwischen ihrem dritten und fünften. Aber was Blonsky vor allem überraschte, war die hohe Zahl der Erinnerungen an beängstigende Situationen. Der stärkste >mnemonische Faktor<, wie er es nannte, war Angst und Schrecken. Fast drei Viertel der ersten Erinnerungen hatten mit beängstigenden Erfahrungen zu tun: die Kinder waren allein gelassen worden, hatten ihre Mutter im Menschengewühl auf einem Markt aus den Augen
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