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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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daß seine erste Erinnerung und die sukzessive Auflösung des Dunkels damit zusammenhingen, daß ihm allmählich ein Bewußtsein von Zeit dämmerte. Es muß an einem Tag im August des Jahres 1903 gewesen sein, rekonstruierte er in Sprich, Erinnerung, sprich, am Geburtstag seiner Mutter. Eine sonnenüberflutete Szene. Er ging zwischen seinen Eltern durch eine kleine Allee auf ihrem Landgut in der Nähe von St. Petersburg. Er konnte gerade ein bißchen zählen und hatte soeben nach seinem eigenen Alter und dem seiner Eltern gefragt. Als ihm die Antworten bewußt wurden, verursachte die Erkenntnis, daß er selbst vier war und seine
    Eltern genau wie er selbst ein Alter hatten, einen »ungeheuer belebenden Schock«: »In diesem Augenblick wurde mir deutlich bewußt, daß das siebenundzwanzigjährige Wesen in weichem Weiß und Rosa, das meine linke Hand hielt, meine Mutter war, und das dreiunddreißigjährige Wesen in hartem Weiß und Gold, das meine Rechte hielt, mein Vater.« Es war, als wären seine Eltern in seiner vagen Kinderwelt bis dahin inkognito vorhanden gewesen. Noch ein paar Jahre lang fragte er regelmäßig nach dem Alter seiner Eltern, »wie ein nervöser Passagier, der nach der Zeit fragt, weil er einer neuen Uhr nicht traut.«
    Eine Schale mit Eis
    1895 ließ das französische Psychologenehepaar Victor und Catherine Henri in den fünf wichtigsten internationalen psychologischen Zeitschriften eine Fragenliste über erste Erinnerungen ab-drucken. Es war der erste Versuch, ausreichend Daten für eine vergleichende Studie zu sammeln. Die Antworten konnte man nach Leipzig schicken, wo Victor zu dieser Zeit bei Wilhelm W'undt studierte. Im Jahr darauf präsentierten die Henris in L'An-nee psychologique ihre Erkenntnisse. Sie hatten 123 Reaktionen bekommen, davon 77 aus Rußland (ein Professor der Philosophie an der Universität von St. Petersburg hatte seine Studenten dazu animiert) und 35 aus Frankreich. Die Resonanz aus England und Amerika war zu vernachlässigen. Hundert Menschen schrieben, daß sie eine bestimmte Erinnerung als ihre erste ausmachen konnten, zwanzig hatten zwei oder drei frühe Erinnerungen, von denen sie nicht wußten, welche die erste war. Zunächst tabellari-sierten die Henris, in welchem Alter die ersten Erinnerungen auftraten. Ein einziger schrieb, er sei damals jünger als ein Jahr gewesen. Von anderthalb Jahren aufwärts steigt es schnell an. Die Spitze liegt kurz nach dem zweiten Geburtstag. Ungefähr achtzig Prozent der ersten Erinnerungen stammen aus der Zeit zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr. Übrigens waren fünf, sechs oder sogar sieben Jahre keine Ausnahme für eine erste Erinnerung. Bei den meisten Befragten lag eine ziemlich lange Zeit zwischen der ersten und einer zweiten oder dritten Erinnerung, manchmal gut ein Jahr. Erst ab ungefähr sieben Jahren und älter begannen Erinnerungen einen Erzählfaden mit einer deutlichen Reihenfolge und einem Verlauf zu spinnen. Oft wurde der Beginn dessen von einem datierbaren Ereignis gekennzeichnet wie »als wir nach X umzogen« oder »als ich in Klasse Y kam«.
    Die Henris zählten auch die Emotionen, die den Beschreibungen nach mit den ersten Erinnerungen verbunden waren. Die größte Kategorie umfaßte Freude, Begeisterung (zehnmal). Danach folgten Kummer (6) und Schmerz (6). Auch Erstaunen (5) wurde als erste Erinnerung beschrieben, ebenso wie Gefühle von Angst und Alleingelassenwerden (zusammen 5). Scham, Reue, Neugier und Beleidigung wurden jeweils ein- oder zweimal genannt. Eine Sortierung der ersten Erinnerungen nach Ereignissen zeigte, daß die Geburt eines Geschwisterkindes (6) viel Eindruck hinterließ. Die zweitgrößte Kategorie bezog sich auf Todesfälle (5). Ein Besuch hat offenbar ebensooft zu ersten Erinnerungen geführt wie Krankheit und Brand (4). Auch ein Fest mit Kerzen (3) wurde genannt, öfter noch als der erste Schultag (2).
    Erste Erinnerungen, fiel den Henris auf, werden fast immer als Bild beschrieben, nicht als Geruch oder Geräusch. Man erinnerte sich, wie jemand aussah, manchmal sogar wörtlich daran, was er gesagt hatte, aber nicht an seine Stimme; wohl an die Kerzen am Fest, aber nicht an die Musik; an die Panik nach einem Unglück, nicht an die Schreie. Bei all diesen ersten Erinnerungen gab es nur eine, die mit einem Geräusch zu tun hatte. Eine Frau erinnerte sich, daß sie gerade mit ihren Puppen spielte, als sie hörte, daß eine Schwester geboren war. Der Bericht kam per Brief, der
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