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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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einfach zu handhaben wie >bif< oder >kad<. Unter gewöhnlichen Umständen kann man Erinnerungen nicht proportional ausdrücken, schlichtweg weil eine Hälfte des Vergleichs fehlt.
    Erst in den siebziger Jahren setzte eine Gegenbewegung ein. Es würde zuweit führen, den Hintergrund dieser Wende hier zu skizzieren. Ein wichtiger Faktor war der beunruhigend große Abstand zwischen den Themen, auf die sich die Hauptströmung der Gedächtnisforschung richtete, und jenen Fragen, die im Zusammenhang mit der Funktion des Gedächtnisses im Alltag auftauchen können. Forscher wie Loftus, Neisser, Baddeley, Rubin, Conway und in den Niederlanden Wagenaar verlagerten ihre Aufmerksamkeit auf Themen, die Neisser unter >everyday memory< einordnete, die Funktion des Gedächtnisses unter natürlichen Umständen. Der augenfälligste Ausdruck dieser Wende ist die schnelle Zunahme der Forschungsarbeiten zum autobiographischen Gedächtnis.
    Die unerwartete Ironie dieser Entwicklung ist, daß sich experimentelle Methoden, nachdem sie einmal auf das autobiographische Gedächtnis angewendet wurden, als sehr produktiv erwiesen. Ein paar Beispiele. Die Psychologen Crovitz und Schiffinan fragten sich, ob Galtons Methode, Assoziationen hervorzurufen, mit einigen Anpassungen nicht für ihre eigene Forschung geeignet sein könnte. Sie legten knapp hundert Studenten zwanzig Wörter vor und baten sie, bei jedem Wort die erste Erinnerung zu notieren, die sie dazu hatten, und diese so genau wie möglich zu datieren. Das Ergebnis war, daß die Häufigkeit der Erinnerungen im Verhältnis zur Zeit gleichmäßig abnahm: die meisten waren recht jungen Datums, in Stunden und Tagen auszudrücken, danach verringerte sich die Anzahl schnell. Crovitz und Schiffman schrieben, daß angesichts des Alters ihrer Versuchspersonen kein sinnvoller Vergleich mit den Ergebnissen Galtons möglich sei, aber im nachhinein gesehen ist gerade das eine der Überraschungen ihres Experiments: ihre Zwanzigjährigen griffen eben nicht auf >alte< Erinnerungen zurück. Die Studie von Crovitz und Schiffman erschien 1974 im Bulletin of the Psychonomic Society, sozusagen dem Herzen der quantitativ und experimentell orientierten Psychologie. Ihr Artikel markierte den Anfang dessen, was man heute als >Galton cuing technique< bezeichnet, inzwischen ein häufig angewendeter experimenteller Zugang zum autobiographischen Gedächtnis.
    Ein anderes Beispiel ist die >Tagebuchstudie< von Wagenaar. Mit 37 Jahren begann er, sein eigenes Gedächtnis zu erforschen. Die Studie sollte letztendlich sechs Jahre in Beschlag nehmen. Er notierte jeden Tag ein Ereignis aus seinem persönlichen Leben, listete auf, was geschah, wer daran beteiligt war, und wo und wann es stattfand. Auf Skalen notierte er auch seine gefühlsmäßige Einbindung und inwiefern es sich um ein bemerkenswertes oder angenehmes Ereignis handelte. Zu jedem Vorfall notierte er außerdem ein kritisches Detail, das als Test dienen sollte, ob er sich wirklich genau an jenes Ereignis erinnerte. Zwischen 1979 und 1983 sammelte Wagenaar 1.605 kleine Berichte persönlicher Ereignisse. Im Jahr darauf wählte er willkürlich eines der Signalwörter >wer<, >wo< oder >wann< und versuchte, sich wieder an das Ereignis zu erinnern. Wenn das mit einem Signalwort allein nicht gelang, nahm er noch eines hinzu, zur Not auch ein drittes, bis er sich wieder an den Vorfall erinnerte. Diesen Teil des Experiments empfand Wagenaar - wie Galton und Ebbinghaus - als Qual. Er konnte höchstens fünf Ereignisse pro Tag abarbeiten, was wiederum erklärt, daß ihn das ein ganzes Jahr kostete. Von den Einsatzsignalen waren >wer war daran beteiligt« und >wo< am effektivsten, >wann< brachte Wagenaar nicht viel. So wichtig ein Datum im gesellschaftlichen Umgang auch ist, im Gedächtnis ist es kein Faktor. Wagenaar merkte, daß er angenehme Ereignisse kurzfristig besser behielt als unangenehme, daß aber dieser erfreuliche Vorsprung später wieder verlorenging. Es zeigte sich, daß das Vergessen -aufgefaßt als Menge der Signalwörter, die er brauchte, um sich an dieses Ereignis wieder zu erinnern - mit einer Regelmäßigkeit verlief, die schon seit Ebbinghaus bekannt ist: zu Anfang vergißt man im Verhältnis viel mehr als später. Auch bei autobiographischen Erinnerungen verläuft die Kurve erst steil nach unten, um später abzuflachen. Ein wichtiger Unterschied, notierte Wagenaar, ist, daß Ebbinghaus seine Silben nach einem Monat so gut wie vollkommen vergessen
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