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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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verloren, hatten sich im Wald verlaufen, standen plötzlich Auge in Auge einem großen Hund gegenüber, waren allein zu Hause, während ein Gewitter niederging. Schmerz war der zweitstärkste mnemonische Faktor. Die erste Erinnerung war, daß sie aus dem Bett fielen, daß man ihnen die Mandeln herausnahm, daß sie sich an etwas verbrannt hatten oder gebissen wurden. (Die Unglücksfälle in den älteren Umfragen verdeutlichen ihren zeitgebundenen Charakter: im 19. Jahrhundert fallen Kinder noch aus den Armen ihres Kindermädchens, ein halbes Jahrhundert später von der Schaukel und möglicherweise werden gerade in diesem Augenblick die Erinnerungen daran aufgezeichnet, was für zukünftige Forscher der typische Spielstraßenunfall sein wird: der Sturz vom federnden Wipphuhn.) ln bezug auf die ersten Erinnerungen, stellte Blonsky fest, haben Kinder ein gutes Gedächtnis für Situationen, die Angst, Schrecken und Schmerz auslösten. Relativ viele Erwachsene führten ihre Angst vor Hunden oder Gewitter auf erste Erinnerungen zurück, als hätte sich der akute Schrecken von damals in ein weniger starkes, aber chronisches Angstgefühl verwandelt.
    Ergebnisse wie diese, befand Blonsky, sind nicht mit Freuds Auffassungen über den Gedächtnisverlust zu vereinbaren. Sie passen eher in die evolutionäre Theorie, das menschliche Gedächtnis stehe im Dienst des Selbsterhaltungstriebs. Um schmerzliche, gefährliche, beängstigende Situationen in Zukunft zu vermeiden, müssen wir sie einfach gut behalten. Es kann keine Rede davon sein, daß sie ins Unbewußte verdrängt werden, um sich dort im Dunkel des Gedächtnisverlusts zu verlieren, im Gegenteil, sie gehören oft zu den ersten Bildern, die unser Gedächtnis festgehalten hat. Es ist auch wenig Symbolhaftes an diesen Bildern: die Assoziation zwischen der heutigen Angst vor Hunden und der Erinnerung an den Hund, der einen angesprungen hat, als man vier Jahre alt war, verlangt nach keiner psychoanalytischen Erklärung. Viele erste Erinnerungen sind schlichtweg zu unangenehm, um glaubwürdige Deckerinnerungen zu sein.
    In Histoire de ma vie (1855) beschreibt George Sand ihre erste Erinnerung. Der Vorfall muß sich 1806 abgespielt haben. Sie ist zwei Jahre alt, als sie aus den Armen eines Kindermädchens auf die Ecke eines Kaminsimses fällt. Sie hat Angst und eine Wunde an der Stirn. Der Aufprall bringt, wie sie schreibt, ihr Nervensystem ins Taumeln, aber er gibt ihr das Gefühl zu leben, und sie sah und sieht die Szene noch deutlich vor sich, den rötlichen Marmor des Kamins, das Blut und das bestürzte Gesicht des Mädchens.
    Das ist eine Erinnerung, die genau in Blonskys größte Kategorie paßt: Schrecken, Schmerz, Bestürzung, das Gegenteil der unbedeutenden, unschuldigen Erinnerungen, die nach Freud dem Gedächtnisverlust entkamen. Daß gerade erste Erinnerungen wie die von George Sand und der Mehrheit von Blonskys Befragten fatale Folgen haben für Freuds Theorie über frühkindlichen Gedächtnisverlust, beinhaltet eine versteckte Ironie. Bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts war >Trauma< ein streng medizinischer Begriff. Er bedeutete, was es heute noch in der traumatologischen Abteilung eines Krankenhauses bedeutet: eine Verwundung, eine körperliche Verletzung. Aber im täglichen Sprachgebrauch ist das Trauma von der Medizin zur Psychiatrie und Psychologie übergewechselt. Es steht nun für eine psychische Wunde, eine geistige Verletzung. An diesem Übergang war Freud maßgeblich beteiligt. Er hat das Trauma psychologisiert. Dank ihm ist es heute eine von vielen akzeptierte Vorstellung, daß Erinnerungen an traumatische Erlebnisse aus Selbsterhaltungstrieb aus dem Bewußtsein verdrängt werden können. Nach Freud liegt dem Gedächtnisverlust der ersten Jahre derselbe Verdrängungsmechanismus zugrunde. Die Ironie an der Sache ist, daß sich offensichtlich so viele erste Erinnerungen auf Verwundungen, Unglücke, Verletzungen, Schädigungen, Brüche, Brandwunden, Bisse beziehen - kurzum auf Ereignisse, die im Sinne der alten Bedeutung des Wortes aus dem 19. Jahrhundert traumatisch sind. Es ist keine Rede davon, daß sie verdrängt werden, sondern es sind gerade die ersten Aufzeichnungen im autobiographischen Gedächtnis.
    Die Sprache der ersten Erinnerungen
    Von den Pädagogikstudenten, die an der Umfrage Blonskys mitarbeiteten, werden nicht mehr viele am Leben sein. Wenn sie noch leben, sind sie um die neunzig und weiter als je zuvor von ihren ersten Erinnerungen
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