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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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entfernt. In diesen Erinnerungen sind nicht nur Bilder aus ihrem persönlichen Leben bewahrt, sie haben auch die Umstände ihrer Existenz festgehalten. Sie sind Kinder gewesen, die mit ihren Eltern und Geschwistern die Aufregung um das erste Radio erlebten. Genauso wehmütig stimmt es, daß Blonsky noch eine separate Kategorie hat für erste Erinnerungen an spannende Dinge, die Vater machtc »Vaters Kanzlei ist in das Haus eingezogen, wo das Kind wohnte, und das Interesse desselben wird durch die großen roten Bleistifte geweckt. Vater hat einen sonderbaren schwarzen Hund mitgebracht. Vater gab die ersten Rechenstunden und hat durch Erzählung von den unendlich großen Zahlen das Kind verblüfft und tief erschüttert. Nachts spielt Vater Geige.«
    Wer neuere Studien über erste Erinnerungen liest, trifft auf andere Erinnerungen, andere Kategorien, andere Analysen, aber vor allem: eine vollkommen andere methodologische Atmosphäre. In der modernen Literatur haben Umfragen Studien Platz gemacht, die sich auf Fragen richten, deren Antworten verifiziert und quantifiziert werden können. Die Ergebnisse werden graphisch in Histogrammen und Kurven wiedergegeben, die bei den Henris und Blonsky noch vollkommen fehlten und bis in die sechziger lahre hinein selten blieben. Die Erinnerungen selbst sind nahezu verschwunden, was noch davon übrigbleibt, findet man manchmal nur noch als kurze Stichwortliste in einer Anmerkung wieder. Viele Studien sind auf die »Zuverlässigkeit« erster Erinnerungen ausgerichtet, ihre >validity< in der angelsächsischen Literatur, derselbe Begriff, den Testpsychologen benutzen, wenn sich die Frage stellt, ob der Test auch tatsächlich mißt, was er zu messen beabsichtigt.
    Laut der Sprachpsychologin Katherine Nelson haben die Ergebnisse der älteren Studien mit Techniken wie Fragebögen und Interviews ihren Wert behalten. Forschung, bei der eine Verifizierung der ersten Erinnerung möglich war, hat in großen Zügen dieselben Muster in bezug auf Alter und Art der Erinnerungen gezeigt. Die Studie der Psychologen Usher und Neisser ist ein Beispiel für Forschung, bei der man sozusagen von der anderen
    Seite angefangen hat: Sie identifizierten erst vier eindeutig zu datierende und zu verifizierende Ereignisse - Geburt eines Geschwisterkinds, Krankenhausaufnahme, Tod eines Familienmitglieds, Umzug - und analysierten dann mit einem Fragebogen die Erinnerung an diese Ereignisse. Ihre Versuchspersonen mußten 17 Fragen folgenden Typs beantworten: Wer paßte während der Geburt auf dich auf, von wem erfuhrst du, ob es ein Junge oder Mädchen war, wo sahst du das Baby zum ersten Mal, wer holte deine Mutter aus dem Krankenhaus ab? Obwohl bestimmte Ereignisse >frühere< Erinnerungen auslösten als andere (>friihe< für Geburt und Krankenhausaufnahme, >späte< für Todesfall und Umzug), war das allgemeine Muster doch das, was bereits aus anderen Studien bekannt war: Erinnerungen an die Zeit vor dem ersten Lebensjahr sind ausgesprochen selten, für die meisten Kinder kommt die erste Erinnerung erst im dritten Lebensjahr oder später. Waren sie erst einmal gebildet, erwiesen sich erste Erinnerungen — nach Prüfung durch Familienmitglieder - als recht genau. Die Frage der Zuverlässigkeit« erster Erinnerungen ist übrigens auch nicht immer relevant: die Erinnerung an einen Vorfall, der anderen zufolge ganz anders verlief, ist noch immer eine Erinnerung.
    Daß erste Erinnerungen völlig unzuverlässig sein können, steht übrigens fest. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget war im glücklichen Besitz einer spannenden ersten Erinnerung, die bis in sein zweites Lebensjahr zurückreichte. Er sah das Bild »mit größter visueller Genauigkeit« vor sich: »Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer Amme auf den Champs-Elysees (nahe beim Grand Palais) geschoben wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. Der gestraffte Lederriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während sich die Amme dem Mann mutig widersetzte. Dabei erhielt sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute vage sehen kann. Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie sie sich in der Nähe der Metrostation abspielte.« Als Jean fünfzehn Jahre alt war, bekam die Familie Piaget unerwartet einen Brief des Kindermädchens, das schon lange nicht mehr bei ihnen war. Sie schrieb, sie sei nun zur Heilsarmee bekehrt
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