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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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die Athener immer das täten, was der beste Redner verlangt, warum rösten dann nicht in diesem Moment Perikles’ Eier an einem meiner Fleischspieße dahinten über dem Feuer?«
    »Weil deine Reden nur im Theater vorgetragen werden«, antwortete mein Onkel. »Und deshalb werden sie auch von niemandem ernst genommen. Die Zuschauer reagieren ihren Ärger über Perikles einfach dadurch ab, daß du ihn zum Gespött machst. Und wenn er dann beim nächstenmal in der Versammlung aufsteht und einen Feldzug zur Eroberung des Mondes vorschlägt, stehen sie nur da und verschlingen seine goldenen Worte so gierig wie vom 31
    Baum gefallene Feigen. Im Theater macht man sich über die Heerführer lustig, und in der Versammlung wählt man sie.
    Ich hatte eigentlich immer gedacht, daß du schon seit Ewigkeiten selbst dahintergekommen seist.«
    »Du bist also nicht nur für Perikles, sondern auch noch gegen die Demokratie«, entgegnete Kratinos gereizt.
    »Mich brauchst du nicht noch mal einzuladen.«
    Mein Onkel lachte. »Wie kommst du denn darauf, daß ich antidemokratisch bin? Nur weil mein Neffe ein Schwachkopf ist, heißt das doch noch lange nicht, daß ich ihn nicht liebe. Nur weil in meiner Stadt eine Menge Blödsinn gemacht wird, will ich doch nicht gleich die Verfassung abschaffen. Ich liebe die Demokratie und hasse die Tyrannei. Deshalb ärgern mich auch Leute, die das Wesen der Demokratie nicht begreifen oder sogar Schindluder damit treiben.«
    »Also, wenn wir hier jetzt anfangen, über Demokratie zu diskutieren«, warf Anaxander mit betont auffälligem Gähnen ein, »dann gehe ich nach Hause. Ich habe morgen früh noch jede Menge Reben zu beschneiden.«
    »Du bleibst schön da, wo du bist, und hältst die Klappe«, wies ihn mein Onkel zurecht. »Du bist wirklich keinen Deut besser als alle anderen. Erst hast du mit Kratinos Streit gesucht, nur um zu sehen, ob er was Lustiges sagt, wenn er wütend wird, und als er dir dann in deinen Kelch gespuckt hat, war das alles auf einmal überhaupt nicht mehr nach deinem Geschmack. Das ist typisch für einen Athener. Wir alle haben eine Vorliebe dafür, wenn sich die 32
    Lage kritisch zuspitzt, weil das so unterhaltsame öffentliche Reden mit sich bringt. Deshalb stimmen wir immer alle dafür, die eine oder andere Stadt zu annektieren oder den einen oder anderen Vertrag zu schließen, und kaum hält irgend so ein klugscheißerischer Politiker eine gute Rede, sind wir auf uns selbst so stolz, daß unsere kleinen Bäuche so dick wie prallgefüllte Weinschläuche anschwellen. Sobald sich die kritische Lage schließlich zum Krieg ausgeweitet hat und unsere Weinstöcke abgefackelt worden sind, verspüren wir den unwidersteh-lichen Drang, irgendeine wichtige Persönlichkeit umzubringen, und richten den erstbesten Politiker hin, der uns unter die Augen kommt – wahrscheinlich ausgerechnet den einzigen, der wirklich nur das Beste für die Stadt will und gerade versucht, den Schaden möglichst gering zu halten.
    Aber dann fängt das ganze Theater wieder von vorn an, mit Splittergruppen und politischen Prozessen und immer mehr und mehr Reden. In der Zwischenzeit haben wir natürlich schon fünftausend Fußsoldaten auf irgendeinen gottver-lassenen Felsen mitten im Meer geschickt, um einen Haufen Barbaren niederzumetzeln, von denen wir zuvor nicht mal gehört haben. Das alles kommt nur daher, daß wir Athener die klügste und intelligenteste Rasse auf der Erde sind und mehr die geistigen als die leiblichen Freuden zu schätzen wissen. Das ist auch der Grund, warum Kratinos bei uns der beliebteste Dramatiker, Perikles der populärste Politiker und Athen die größte Stadt der Welt ist, und deshalb wird es mit uns allen eines Tages noch ein böses Ende nehmen.«
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    »Verdammter Mist!« schimpfte Kratinos nach langem Schweigen. »Wenn ich zum Essen eingeladen werde, erwarte ich, die Reden selbst zu schwingen.«
    »Genau«, bestätigte mein Onkel Philodemos. »Darum habe ich dich ja auch zu kommen gebeten. Aber deine Sprüche wurden immer wirrer und zusammenhangloser, und da habe ich eben als guter Gastgeber selbst für die Unterhaltung gesorgt. Wo ist der Bengel mit dem Wein?
    Nach diesem ganzen klugen Gerede ist meine Kehle so trocken wie der Schleifsand beim Steinmetz.«
    Anaxander leerte seinen Kelch bis zum Boden und hielt ihn mir zum Nachfüllen entgegen. »Also, Philodemos, wenn ich deine Vorträge hätte hören wollen, wäre ich doch nicht an einem solch regnerischen Abend durch die
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