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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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historischer Bedeutung ist, folgt daraus noch lange nicht zwingend, daß es auch großen Einfluß auf das Leben der Menschen hatte, die zur fraglichen Zeit am Ort des Geschehens waren. So erinnere ich mich aus meiner Kindheit an einen sehr alten Mann, der in unserem Ort lebte und sich als Jugendlicher beim Überfall der Perser gerade in Athen aufgehalten hatte. Bei einem jungen Mann sollte man eigentlich annehmen, der Anblick der niedergebrannten Stadt und der dem Erdboden gleichgemachten Tempel der Götter hätte tiefgreifende Auswirkungen auf seine Persönlichkeit und weitere Entwicklung haben müssen, doch traf das in seinem Fall 37
    überhaupt nicht zu. Er verdingte sich als Grabräuber und war nach der allgemeinen Evakuierung nur deshalb nach Athen zurückgekehrt, um nachzusehen, ob der ein oder andere Einwohner aufgrund der überstürzten Flucht irgendwelche Wertgegenstände zurückgelassen hatte. Als er feststellte, daß es überall nur so von unheimlich aussehenden Barbaren mit roten Köpfen und vergoldeten Rüstungen wimmelte, versteckte er sich vernünftigerweise so lange in einem Haufen Holzkohle, bis er keinen mehr sehen konnte. Nachdem die Stadt in Flammen aufgegangen war, schlüpfte er aus seinem Versteck und entkam durch eine Lücke in der Stadtmauer mit einem Sack kleiner Gold-und Silberstatuetten, die er in einem Haus im Kerameikos, dem Töpferviertel, gefunden hatte. Durch den Erlös dieser Beute verfügte er später über das Kapital, um sich als Schmied niederzulassen. Aber das einschneidendste Erlebnis in seinem Leben, das seine Vorstellung von der Welt und seine menschlichen Umgangsformen erst grundsätzlich veränderte, fand statt, als ihn der Besitzer jener Gold- und Silberstatuetten ausfindig machte und ins Gefängnis werfen ließ.
    Die große Pest breitete sich schon zu Beginn des Peloponnesischen Kriegs aus und dauerte zwei, vielleicht auch drei Jahre. Ich will ehrlich sein und gestehen, daß meine Erinnerung an diese Zeit nur bruchstückhaft ist und durchaus Gefahr läuft, Dinge miteinander zu vermischen.
    Aus diesem Grund neige ich immer wieder dazu, das Wüten der Pest rückblickend so zu sehen, als hätte sie nur für den Zeitraum von ungefähr einer Woche gewütet. Aber damals war ich noch sehr jung, und wie schnell man sich in 38
    diesem Alter auf neue Situationen einstellt, ist schon erstaunlich. Vor kurzem hörte ich von einem höchst gelehrten Wissenschaftler einen Bericht über den Peloponnesischen Krieg – dieser Mann war früher einmal Heerführer gewesen, aber wegen eines furchtbar dummen Fehlers freiwillig in die Verbannung gegangen. Daraufhin hatte er sich in einer sicheren Kleinstadt auf neutralem Boden zur Ruhe gesetzt und mit der Niederschrift seines gewaltigen Werks Die Geschichte des Kriegs begonnen.
    Dies alles tat er nur, um später, wenn sich kaum noch jemand an den Krieg erinnerte, wie das bei mir inzwischen der Fall ist, aus seinem Buch vorlesen und nachweisen zu können, daß alle anderen Kriegsteilnehmer wenigstens genauso unfähig gewesen waren wie er, wahrscheinlich sogar noch sehr viel unfähiger als er selbst. Dieser Mann behauptete, Perikles sei bereits im dritten Kriegsjahr an der Pest gestorben, was mich aufs höchste überraschte. Aber ich nehme an, ich erinnere mich unbewußt eben lieber an die Jahre vor der Pest als an die unmittelbar darauffolgenden, und darum kommt mir die Zeit vor dem Ausbruch der Seuche länger vor, als sie in Wirklichkeit war. Wenn ich es mir jetzt recht überlege, habe ich wahrscheinlich nicht das Zeug zum Historiker.
    Natürlich behauptet heute fast jeder, dem man in Athen begegnet, er habe die Pest gehabt und sie überlebt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund wird das Überstehen dieser tödlichen Krankheit für ein Merkmal moralischer Größe und geistigen Verdienstes gehalten, geradewegs so, als sei man von den Göttern auf die Probe gestellt und freigesprochen worden. Selbst der kleine Feldherr und 39
    Buchverfasser will die Pest gehabt haben, allerdings muß ich gerechterweise einräumen, daß man die Symptome der Pest in seiner Darstellung zumindest wiedererkennt.
    Außerdem vermittelt er einem den Eindruck, bei allen berühmten und bedeutenden Reden direkt vor Ort gewesen zu sein. Da aber einige dieser Ansprachen zur gleichen Zeit in den verschiedensten Ecken Griechenlands gehalten wurden, bezweifle ich doch stark, daß er jedesmal mit Wachstafeln auf den Knien dagesessen und jedes einzelne Wort aufgezeichnet hat, sobald
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