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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
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tiefer in den Waldboden. Dann, endlich, wurde der Lehm wieder weicher, und als sich der Himmel im Osten violett zu färben begann, warf Janna ihr Werkzeug hin und sagte: »Ich glaube, es reicht.« Ihre Nase schaute gerade noch über den Rand.
    »Wie groß bist du?«, fragte Emily.
    »Eins fünfundsiebzig.«
    »Fehlen noch fünf Zentimeter«, sagte Marie.
    »Aber es wird bald hell.« Janna hatte recht. Die Taschenlampen brauchte man schon nicht mehr, der Wald begann zu erwachen, die ersten Vögel lärmten.
    »Ja, es reicht«, meinte auch Emily.
    Sie halfen Janna wieder nach oben. Dann standen sie nachdenklich am Grubenrand. »Wie kriegen wir sie da runter?«, sprach Marie die Frage aus, die quasi in der Luft hing.
    Allein bei dem Gedanken sträubten sich Emily die Haare. »Vielleicht in der Decke«, schlug sie vor.
    »Wir hätten ein Seil mitnehmen sollen«, seufzte Marie. »Wie wäre es, wenn Emily und ich je ein Ende der Decke nehmen und Janna geht runter und nimmt sie in Empfang?«
    »Was? Und wie komm ich dann wieder raus? Soll ich auf sie draufsteigen?«, kreischte Janna mit einer Spur Hysterie in der Stimme.
    »Reg dich ab«, sagte Marie. »Ich habe ja nur laut nachgedacht.«
    »Jetzt holen wir sie erst mal raus«, beschloss Janna. Emily zog die Decke von der Schubkarre. Fahles Morgenlicht fiel auf das todbleiche Gesicht und ließ es weiß leuchten. Die Leichenstarre musste sich im Lauf der letzten paar Stunden verflüchtigt haben, denn nun hing der Kopf in einem merkwürdigen Winkel herab und auch die Beine gehorchten wieder der Schwerkraft. Die rechte Hand lag mit verkrümmten Fingern auf der Brust und erinnerte Emily an eine Vogelkralle.
    Auch Marie wandte sich mit wachsbleichem Gesicht ab. Sie schluckte, als müsse sie eine aufsteigende Übelkeit niederkämpfen. »Das ist Wahnsinn!«, murmelte sie.
    »Mag sein, aber jetzt bringen wir es zu Ende, mach nicht schlapp, Marie«, flüsterte Janna wild entschlossen. »Los, nimm du die Beine, ich nehme sie vorne.«
    Die Schwestern hoben ihre Großmutter aus der Schubkarre und legten sie auf die Decke, die Emily daneben ausgebreitet hatte. Emily beobachtete intensiv den Himmel, an dem die Sterne verblassten. Als sie sich wieder dem Geschehen zuwandte, hatten Marie und Janna den Körper in die Decke geschlagen und ihn an den Rand der Grube geschleppt.
    »Emily, fass hier oben mit an«, sagte Janna. Zu dritt hoben sie die Decke an. Für einen Augenblick hing der Leichnam über der Grabstätte. Sie knieten sich hin und beugten sich weit nach vorne, um den Körper möglichst tief hinunterzulassen. Dennoch blieb immer noch mehr als ein Meter Luft zwischen dem Körper und dem Grund des Grabes.
    »Mir rutscht die Decke weg«, rief Marie am Fußende der Leiche panisch.
    »Auf drei loslassen!«, befahl Janna. »Eins, zwei...«
    Nie würde Emily das Geräusch vergessen, mit dem der Körper auf der Erde aufschlug. Ihr war, als hätte die Tote dabei noch einen letzten Seufzer von sich gegeben – um nicht zu sagen: einen Furz. Auch Marie hatte das Geräusch gehört, sie brach in unkontrolliertes Kichern aus. Dann schaltete sie ihre Taschenlampe an und leuchtete hinab. Emily wollte sich abwenden, aber irgendetwas zwang sie, einen Blick nach unten zu werfen. Die Tote lag auf dem Rücken in der engen Grube, wie sie es beabsichtigt hatten. Marie schaltete die Lampe aus.
    »Das wäre geschafft«, stellte Janna fest. Die Worte klangen nüchtern, doch etwas in ihrem Tonfall hatte sich geändert.
    »Ja«, sagte Marie.
    Emily trat in den Hintergrund und schwieg. Sie begriff, dass dies nach all der schweren Arbeit nun der schlimmste Moment für die beiden Geschwister war.
    »Wir sollten ein Gebet sprechen«, sagte Janna.
    »Aber sie ist doch nie zur Kirche gegangen«, flüsterte Marie.
    »Trotzdem«, beharrte Janna.
    »Was für ein Gebet?«, fragte Marie.
    »Wir wär’s mit dem Vaterunser?«, schlug Emily schüchtern vor.
    »Das ist gut«, meinte Janna und dann standen alle drei mit gesenktem Blick und gefalteten Händen vor dem Grab und murmelten das Vaterunser.
    Marie nahm eine Handvoll Erde und warf sie hinab. »Mach’s gut, Oma«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Hoffentlich gefällt es dir hier im Wald. Es tut mir leid, wenn wir dich manchmal geärgert haben. Ich weiß, du hast dir immer Mühe mit uns gegeben und...und hast uns...« Marie verstummte. Ein Schluchzen stieg ihr die Kehle hinauf, sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und schniefte. Emily reichte ihrer Freundin
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