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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
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ein zerknülltes Papiertaschentuch.
    Dann trat Janna an das Grab heran und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Tschüss, Oma. Es war nicht immer leicht mit dir, aber mit uns wahrscheinlich auch nicht. Sei nicht böse, dass Moritz nicht dabei ist, aber der kapiert das noch nicht. Wir werden Mama zu dir bringen, wenn sie wieder gesund ist, das verspreche ich dir. Und wir werden dich nie vergessen.« Dann versagte auch ihr die Stimme und sie warf eine Handvoll Erde in das Dunkel hinab.
    Ein paar Minuten lang standen die Schwestern da und hielten sich stumm an den Händen. Auch Emily liefen Tränen aus den Augen. Sie weinte weniger um Frau Holtkamp, die sie kaum gekannt hatte, sondern weil sie daran denken musste, wie traurig es doch war, dass die Mädchen nun niemanden mehr hatten – außer einer offenbar verrückten Mutter. In diesem Moment verspürte Emily eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass bei ihr zu Hause alles in Ordnung war.
    Der Himmel zwischen den Bäumen war nun schon hellblau und über ihnen begann ein aufgescheuchter Vogel zu zetern.
    »Wir sollten verschwinden«, mahnte Emily. »Nicht, dass noch ein Jäger auf die Idee kommt, hier im Morgengrauen rumzuballern.«
    Sie griffen erneut nach Schaufel und Spaten. Das Zuschaufeln der Grube dauerte keine Viertelstunde. Als das Grab zur Hälfte mit der schweren, lehmigen Erde gefüllt war, stieg Janna sogar noch einmal hinab und trat den Lehm fest. Niemand machte dazu eine Bemerkung. Manche Dinge mussten einfach getan werden, erkannte Emily, ohne Rücksicht auf Pietät. Pietät – ein komisches Wort, was es wohl genau bedeutete?
    Sie warfen ihre Werkzeuge in die Schubkarre und machten sich erschöpft und mit bleischweren Armen auf den Weg zurück. Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten die taufeuchten Felder, und als sie beim Bahnwärterhäuschen ankamen, rauschte die erste S-Bahn lautstark vorbei. Jetzt ein Bett, konnte Emily nur noch denken. Sie beneidete den kleinen Moritz, der während der letzten Stunden selig geschlummert hatte, während sie geschuftet hatten wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
    Emily schenkte sich das Zähneputzen, sie wusch sich nur Erde und Staub von Armen und Gesicht, dann schnappte sie sich eine Decke und legte sich im Wohnzimmer auf die Couch. Marie hatte ihr angeboten, sie könne im Bett der Großmutter schlafen, aber das hätte Emily niemals fertiggebracht. Doch obwohl sie todmüde war und kaum noch ihre Glieder bewegen konnte, rasten ihre Gedanken. Sobald sie die Augen schloss, zogen grausige Bilder an ihr vorbei.
    Plötzlich polterten Janna und Marie die Treppe hinunter.
    »Moritz ist weg.«
    Mühsam kam Emily wieder in die Höhe. »Was?«
    »Moritz ist weg«, wiederholte Janna. »Er ist nicht in seinem Zimmer.«
    Marie rief aus der Küche. »Hier ist er nicht. Und auf dem Klo auch nicht.«
    »Und jetzt?«, fragte Emily ratlos.
    »Emily, als du heute Abend aus dem Zimmer bist, hat er doch fest geschlafen, oder?«
    »Ich glaube schon«, sagte Emily verunsichert.
    »Bestimmt hat er dich gelinkt, die kleine Ratte«, knurrte Janna, die neben ihrer Besorgnis auch ziemlich verärgert war.
    »Was machen wir jetzt?«, jammerte Marie, der man die Erschöpfung deutlich ansah. Ihr sonst blasses Gesicht wies unregelmäßige Flecken auf, die Augen waren rot vor Übermüdung.
    »Scheiße, ich bin so fertig, ich kann nicht klar denken«, stöhnte Janna. Sie plumpste auf einen Sessel und verbarg ihr Gesicht hinter ihren noch immer leicht schmutzigen geröteten Händen. Ihr blondes Haar hing wirr und zerzaust herab, alles in allem bot sie einen verzweifelten Anblick.
    Emily und Marie standen betreten vor ihr.
    Was jetzt? Emily biss sich auf die Lippen. Wenn sie jetzt die Polizei holen mussten, um nach Moritz zu suchen, dann war alles aus, dann war die Schufterei im Wald umsonst gewesen, dann drohte den Weyer-Geschwistern das Heim. Womöglich wurden sie sogar noch für die Beerdigung von Frau Holtkamp bestraft. Emily wusste zwar nicht, wo so etwas geschrieben stand, aber sie war hundertprozentig sicher, dass es in Deutschland nicht erlaubt war, Großmütter in Wäldern zu verscharren – man durfte dort ja nicht einmal einen Dackel begraben.
    »Komm, Marie, wir suchen im Garten«, sagte Emily und ging entschlossen zur Tür, obwohl sich jede Faser ihres Körpers sträubte.
    »Und ich schau noch mal im Haus nach. Vielleicht will er uns nur ärgern und hat sich versteckt«, sagte Janna.
    »Wenn er das gemacht hat, dann . . .« Marie ließ offen, was sie
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