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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
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viele Jahre es für Brudermord gibt.«
    »Für dich gar keine, du bist dreizehn und noch nicht strafmündig«, meinte Janna trocken.
    »Dann pass gut auf dich auf«, murmelte Marie. Statt einer Antwort warf Janna die Pillen in den Abfalleimer.
    Emily kam die Treppe herunter. »Er schläft!«, flüsterte sie triumphierend.
    »Wie hast du das hingekriegt?«, wollte Marie wissen.
    »Ich habe ihm laut vorgeführt, wie gut ich kopfrechnen kann.«
    »Kannst du das denn?«, fragte Janna.
    »Nein. Aber er hat’s nicht gemerkt.«
    Dann wurden alle drei mit einem Mal sehr ernst.
    »Ich denke, wir sollten dann mal los«, sagte Janna. »Oder?«
    »Ja, es wird Zeit«, antwortete Marie und griff nach ihrer Taschenlampe. Emily bekam eine ausgediente Hose von Janna, damit sie am nächsten Tag zu Hause nicht wegen schmutziger Kleidung in Erklärungsnöte kommen würde. Die Schwestern schlüpften in ihre Gummistiefel und Emily, die in ihren Chucks gekommen war, bekam Lederstiefel, die Frau Holtkamp gehört hatten.
    Emily verspürte einen inneren Widerwillen, in die Schuhe einer Toten zu schlüpfen, aber sie protestierte nicht. Janna und Marie sollten sie nicht für zimperlich halten und schließlich war Frau Holtkamp ja nicht in diesen Schuhen gestorben.
    Sie traten vor das Haus, Janna schloss die Tür ab. Nach der Hitze des Tages war es angenehm kühl. Der Himmel war klar und sternenübersät, aber es stand kein Mond über dem kleinen Wald.
    Donnerstag, dritter Juli.
    Neumond, das hatte heute früh auf dem Abreißkalender in der Küche gestanden, erinnerte sich Emily. Es würde vollkommen dunkel sein.
    Im Holzschuppen fanden sie zwei Spaten, einen mit langem und einen mit kurzem Stiel. »Die Schaufel müsste auch gehen«, meinte Marie und drückte Emily einen Stiel mit einem dreieckigen Schaufelblatt in die Hand. Dann bogen sie um den Schuppen, wo die Schubkarre stand, in der Frau Holtkamp lag. Vergeblich versuchte Emily, die Vorstellung zu verdrängen, wie Janna und Marie sie heute Nachmittag da hineingelegt hatten.
    Obwohl die alte Frau nicht sehr groß gewesen war, passte sie dennoch nicht ganz in die Blechwanne der Karre. Ihre Beine ragten steif über den Rand, ebenso der Kopf.
    Emily grauste bei dem Anblick. »Wieso hängt der Kopf nicht hinten runter?«, flüsterte sie Marie zu.
    »Leichenstarre«, antwortete diese, ebenfalls flüsternd. Sie hatte eine Wolldecke mitgebracht, die sie nun über den Leichnam breitete. Janna nahm die Griffe der Schubkarre und setzte sich langsam in Bewegung.
    »Pass bloß auf, dass sie nicht umkippt«, flehte Marie, als Janna mit der Karre über den holprigen Rasen rumpelte.
    »Ich tu mein Bestes«, ächzte Janna und schob die Karre durch das Gartentor, das Marie ihr aufhielt.
    Das erste Stück des Weges konnten sie noch auf dem Feldweg zurücklegen. Marie löste ihre Schwester beim Schieben ab. War die Karre erst einmal ins Rollen gekommen, ging es gar nicht so schwer. Emily lief mit der Taschenlampe vorneweg und räumte große Steine und Äste aus dem Weg. Um zum Wald zu kommen, mussten sie nach hundert Metern auf einen Trampelpfad abbiegen, der an einem Rapsfeld entlang bis zum Waldrand führte. Nun schob Janna wieder, während Emily und Marie die Seiten der Karre stützten, die ständig drohte umzukippen. Der Pfad war holprig. Eine bleiche Hand schaute unter der Decke hervor, es war, als würde sie fortwährend winken. Emily wagte nicht, den Arm anzufassen und ihn wieder in die Wanne zu legen. Ein süßlicher Geruch stieg ihr in die Nase. »Wie das riecht! Mir wird gleich übel«, jammerte sie.
    »Hab dich nicht so, das ist doch nur der Raps«, sagte Marie. »Pass lieber auf, dass die Karre nicht umkippt!«
    Emily konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe, die Wanne in der Balance zu halten. Nicht auszudenken, sollte ihr die Leiche vor die Füße stürzen, dachte sie und kämpfte gegen einen Anflug von Panik. Die beiden Schwestern schwiegen, nur ab und zu hörte man eine von ihnen vor Anstrengung keuchen.
    Was wohl in ihnen vorging, fragte sich Emily. Für Emily war Frau Holtkamp eine Fremde gewesen und inzwischen eigentlich nur noch eine Leiche, etwas, das ihr Angst machte, Ekelgefühle auslöste. Aber wie mussten sich Marie und Janna fühlen, jetzt, wo sie ihre Oma, die Frau, die für sie gesorgt hatte, tot in einer Schubkarre einen Feldweg entlangschoben?
    Die Nacht war voller Geräusche. Immer wieder hörte man es im Rapsfeld rascheln und plötzlich glitt ein Schatten dicht über ihre
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