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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
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Sache, die sie von anderen Mädchen unterschied.
    Emily griff nach ihrem Rucksack und rannte die Treppe hinunter. Ihre Mutter war bei der Arbeit, umso besser. Hastig kritzelte sie Bin bei Marie auf einen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch. Dann schwang sie sich aufs Fahrrad.
    Emily näherte sich Maries Zuhause aus südlicher Richtung. Die asphaltierte Straße hatte sie hinter sich gelassen, der holprige Feldweg, auf dem sie nun fuhr, verlief neben einem Maisfeld. Mannshoch standen die Stauden und nahmen ihr die Sicht. Der Wind frischte auf, Staub tanzte in kleinen Wirbeln vor ihr her, die Blätter der Maispflanzen raschelten.
    Emily sah sich unwillkürlich um. Marie hatte ihr erzählt, dass sich Wildschweine bevorzugt in Maisfeldern aufhielten. »Und wenn die Junge haben, können die ganz schön gefährlich werden, die schlitzen dich mit ihren Hauern regelrecht auf«, hatte sie anschaulich geschildert.
    Marie hatte einen Hang zum Makabren, sie war berüchtigt für ihre Horrorgeschichten. Neulich hatte sie auf den dampfenden Komposthaufen gestarrt und verkündet, dies sei das Tor zur Unterwelt. Unter dem rottenden Müll würden sich nackte, augenlose Wesen tummeln, die nur darauf warteten, dass sich ihnen ein Zugang zur Menschenwelt öffnete.
    »Du meinst Regenwürmer«, hatte Emily gekichert.
    »Regenwürmer? Nimm das mal nicht so locker«, hatte Marie todernst erwidert. »Sie sind riesig und pechschwarz und haben einen Kopf und ein Maul mit einer klebrigen Zunge, damit ätzen sie einem die Haut vom Körper, wenn man sie berührt.«
    Emily hatte die Augen verdreht und den Kopf geschüttelt, aber der siebenjährige Moritz machte seither einen Bogen um den Komposthaufen.
    Emily war erleichtert, als sie das Maisfeld hinter sich ließ. Jetzt war es nicht mehr weit, von hier aus sah man schon, gleich hinter den Gleisen, das kleine Haus mit dem steilen Dach, das Emily ein wenig an ein Hexenhaus erinnerte. Es war ein altes Bahnwärterhäuschen und die Adresse lautete: Außerhalb 5.
    Einen Bahnwärter gab es natürlich nicht mehr, der Übergang war inzwischen mit einer Lichtanlage gesichert, die rot blinkte, wenn ein Zug kam. Es passierte aber nur alle halbe Stunde eine S-Bahn das Häuschen und hin und wieder ein Güterzug. Dann allerdings klirrten die Gläser im Schrank und tanzten die Tassen auf dem Tisch.
    Maries Familie hatte sich längst an die Züge gewöhnt und davon abgesehen war man hier völlig ungestört. Nur hin und wieder zog ein Trecker seine Bahnen durch die Felder, die das kleine Haus umgaben. Es stand mitten in einem weitläufigen Garten, der von wuchernden Holundersträuchern umgeben war. Mit dem großen Grundstück schien Maries Großmutter ein wenig überfordert zu sein, jedenfalls sah der Garten bei Emily zu Hause gepflegter aus.
    Emily hatte die alte Frau bei ihren letzten Besuchen kennengelernt. Sie war ihr wortkarg und ein wenig mürrisch vorgekommen, aber Marie meinte, sie sei ganz in Ordnung, wenn man sie besser kenne. »Sie ist nur ein bisschen menschenscheu.«
    Auf die Frage, was mit ihren Eltern sei, hatte Marie knapp geantwortet: »Autounfall.« Dabei war ein verschlossener Ausdruck in ihre dunklen Augen getreten und Emily hatte nicht weitergefragt.
    Emily schob ihr Fahrrad durch das Gartentor, das schief in den Angeln hing, und stellte ihr Rad gleich dahinter ab. Die Haustür stand weit offen. Trotzdem klingelte Emily, doch niemand reagierte. Zögernd betrat sie den dämmrigen Flur.
    »Hallo? Ich bin’s, Emily! Ist jemand zu Hause?«
    Keine Antwort. Sie mussten wohl alle im hinteren Teil des Gartens sein. Hoffentlich hatte sie durch ihr Klingeln nicht Frau Holtkamps Mittagsschlaf gestört, dachte Emily. Alte Leute machten doch so etwas, Mittagsschlaf – zumindest ihre Oma tat das. Aber eigentlich sah Frau Holtkamp noch gar nicht so alt aus. Sie hatte braunes, vermutlich gefärbtes Haar, dessen helmartige Frisur an eine Playmobilfigur erinnerte. Für eine Frau über siebzig war sie bemerkenswert schlank und von aufrechter Haltung. Ihren Gesichtszügen sah man trotz der Falten noch immer an, dass sie einmal sehr schön gewesen sein musste.
    Auch die Wohnungseinrichtung war untypisch für eine alte Frau: In den kleinen Räumen mit den niedrigen Decken und den Holzbalken standen helle Möbel, die Zimmer waren gemütlich eingerichtet, ganz ohne Nippes, Plunder und Plüsch.
    Hier gab es weder düstere Schrankwände noch wuchtige Polstermöbel, keine übereinanderliegenden Orientteppiche oder
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