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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key
Autoren: Stephen King
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Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein entgegenkommender Wagen etwas zu nahe an die Mittellinie heranzukommen schien. Manchmal versteifte ich mich und trat die unsichtbare Beifahrerbremse durch. Was den Zeitpunkt betraf, an dem ich mich selbst wieder ans Steuer setzen würde, klang in meinen Ohren niemals ziemlich richtig.
    Kathi Green, die Reha-Queen, hatte erst eine Scheidung hinter sich, aber Tom und sie waren auf derselben Wellenlänge. Ich weiß noch, wie sie in ihrem Stretchanzug mit gekreuzten Beinen auf der Veranda zum See hinaus saß, meine Füße festhielt und mich grimmig empört anstarrte.
    »Da bist du also frisch zurück aus dem Motel Tod und mit einem Arm weniger, und sie will Schluss machen. Weil du sie mit einem Krankenhausmesser aus Kunststoff gepikst hast, als du dich kaum an deinen eigenen Namen erinnern konntest? Verfluchte Scheiße! Kapiert sie nicht, dass Stimmungsschwankungen und kurzzeitiger Gedächtnisverlust nach einem Unfalltrauma ganz normal sind?«
    »Sie kapiert, dass sie Angst vor mir hat«, sagte ich.
    »Echt wahr? Nun, dann hör auf deine Mama, Sunny Jim: Wenn du einen guten Anwalt hast, kannst du sie’s büßen lassen, dass sie so ein Schwächling ist.« Aus ihrem Pferdeschwanz à la Reha-Gestapo hatte sich eine Haarsträhne gelöst, die sie sich jetzt aus der Stirn blies. »Sie sollte dafür büßen müssen. Merk dir, was ich sage: Nichts davon ist deine Schuld. «
    »Sie sagt, dass ich versucht habe, sie zu erwürgen.«
    »Und wenn’s so wäre, muss es sie schlimm mitgenommen haben, von einem einarmigen Invaliden gewürgt zu werden. Komm schon, Eddie, lass sie dafür büßen. Ist mir egal, ob ich mir damit mehr rausnehme, als ich dürfte. Sie sollte nicht tun, was sie tut.«
    »Ich denke, dahinter steckt mehr als die Sache mit dem Würgen und dem Buttermesser.«
    »Und zwar?«
    »Weiß ich nicht mehr.«
    »Was sagt sie dazu?«
    »Nichts.« Aber Pam und ich waren seit Langem zusammen, und selbst wenn der Strom der Liebe sich zu einem Delta aus passiver Akzeptanz aufgefächert hatte, glaubte ich sie gut genug zu kennen, um zu wissen, dass es noch etwas anderes gegeben hatte - dass es weiterhin etwas anderes gab -, vor dem sie flüchten wollte.
     
     
     
     
     
     
    IV Nicht lange nach meinem Umzug an den Lake Phalen kamen die Mädchen - die jungen Frauen - mich besuchen. Sie brachten einen Picknickkorb mit, und wir saßen im Tannenduft auf der Seeveranda und blickten übers Wasser hinaus und knabberten an den Sandwichs. Inzwischen war es Mitte September, und die meisten der schwimmenden Spielsachen waren bis zum Frühjahr eingemottet. In dem Korb war auch eine Flasche Wein, aber ich trank nur wenig davon. Zusammen mit meinen Schmerzmitteln wirkte Alkohol bei mir sehr stark; ein einziges Bier konnte mich zum Lallen bringen. Die beiden Mädchen - die jungen Frauen - teilten sich den Rest Wein, und das ließ sie auftauen. Melinda, seit meiner bedauerlichen Auseinandersetzung mit dem Kran zum zweiten Mal aus Frankreich zurück und darüber nicht glücklich, fragte mich, ob alle Erwachsenen in den Fünfzigern diese unangenehmen regressiven Phasen hätten und auch sie sich darauf gefasst machen müsse. Ilse, die Jüngere, fing an zu weinen, lehnte sich an mich und fragte, warum nicht wieder alles so sein könne wie früher, warum wir - sie meinte ihre Mutter und mich - nicht wieder sein könnten, wie wir waren.
    Lin erklärte ihr, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Illys patentiertes Kleinkindverhalten sei, und Illy zeigte ihr den Stinkefinger. Ich musste lachen. Ich konnte nicht anders. Dann lachten wir alle. Lins Gereiztheit und Ilses Tränen waren nicht gerade angenehm, aber sie waren wenigstens ehrlich, und ich erkannte beide Reaktionen aus all den Jahren, die wir zusammen unter einem Dach verbracht hatten; sie waren mir so vertraut wie das Muttermal an Ilses Kinn oder die schwache senkrechte Sorgenlinie zwischen Lins Augen, die sich im Lauf der Zeit wie bei ihrer Mutter zu einer Falte vertiefen würde.
    Linnie wollte wissen, was ich vorhatte. Ich erklärte ihr, dass ich das noch nicht wusste, und in gewisser Weise stimmte das auch. Ich war auf dem Weg zu der Entscheidung, mir das Leben zu nehmen, schon weit fortgeschritten, aber mir war klar, dass mein Freitod unbedingt wie ein Unfall aussehen musste. Ich durfte diesen beiden, die ihr Leben gerade erst begannen, keine Restschuld am Selbstmord ihres Vaters aufhalsen. Und ich wollte auch der Frau, mit der ich mir einmal
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