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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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beschließt   – eine plötzliche, abrupte Änderung seines Plans   –, mit erhobenem Gewehr aus der Deckung am Fuße der Treppe hervorzukommen. Und da sieht er Tom, mit dem Rücken an die Innenseite der Haustür gepresst, durch die Ellie kommen muss, in einer Abwehrhaltung, die ihm vage bekannt vorkommt.
    Er ist in seiner Soldatenuniform, von Kopf bis Fuß, in den Sachen, in denen er gestorben ist, und auch sein Gesicht und seine Augen sehen aus wie die eines Soldaten.
    Und diesmal spricht er, obwohl das gar nicht nötig wäre.
    Er sagt: »Erschieß mich zuerst, Jack, mich zuerst. Sei nicht so ein verdammter Idiot. Nur über meine Leiche, verdammt.«

36
    Ellie biegt bei der alten Kapelle ab, wo der letzte Anstieg zum Cottage beginnt. Nie zuvor in ihrem Leben hat sie das Gefühl gehabt, so grauenvoll zu spät zu kommen, und in ihrer übergroßen Eile begreift sie schon allein die Hast als Zeichen, dass das Schlimmste eingetreten sei. Warum sonst würde sie sich so beeilen? Die Logik ist falsch, aber sehr überzeugend. Andererseits, wenn das Schlimmste eingetreten ist, nützt auch die ganze Beeilung nichts.
    Noch kann die größte Eile die Reihe der Ereignisse der letzten Stunden rückgängig machen. Sie hätte einfach nicht wegfahren dürfen. Sie sollte jetzt nicht auf dem Weg nach Hause sein. Vor zwei Tagen bestand ihr Vergehen darin, dass sie geblieben war, heute, dass sie weggefahren ist. Nie zuvor hat sie Jack im Ernst den Rücken gekehrt. Der Gedanke war ihr nie gekommen, doch schon jetzt könnte die unumkehrbare Situation da sein: ein Leben ohne Jack.
    Ihre Erstürmung von Beacon Hill unterscheidet sich sehr von der langsamen, dabei zielstrebigen Anfahrt von Major Richards letzte Woche, die, so könnte man sagen, der Grund war, warum sie es jetzt auf derselben Straße so eilig hat. In seinem Fall wäre Eile ganz unangemessen gewesen, desgleichen allerdings eine Verspätung oder jegliche Andeutung eines Säumens.
    Ellie, die noch vor wenigen Sekunden gedacht hat, sie sei wie Jack und müsse den schrecklichen Abhang des Barton Field hinuntergehen, wünscht sich einen Moment lang, sie könnte Major Richards sein, auf seinem gemessenen Weg zum Lookout Cottage. Und die Reihenfolge und Zuordnung der Ereignisse könnte neu zusammengestellt werden. Dann könnte alles von vorne anfangen und sich ein zweites Mal entrollen. Oder vielmehr denkt Ellie, während sie ganz und gar unmajorenhaft den Berg raufrast, lieber wäre sie Major Richards, der die Bestätigung von Toms Tod bringt, lieber wäre sie Major Richards mit seiner nicht gerade beneidenswerten Aufgabe als Botschafter des Todes, als die Frau, die sie ist, in der schrecklichen Notlage, in der sie sich in diesem Moment befindet.
    Und während Ellie sich einen Augenblick lang in Major Richards hineinversetzt, hat sie das deutliche Gefühl, dass ihrer Rückkehr ein militärischer Geisterbesuch vorausgegangen ist. Als hätte Major Richards es in ihrer Abwesenheit, während sie ziellos umhergefahren war und am Rande des Cliffs gewartet hatte, und selbst bei diesem Wetter geschafft, ihnen einen weiteren Besuch abzustatten, einen Überraschungsbesuch. Um ihnen zu mitzuteilen, dass das Ganze ein Irrtum sei. Eine Verwechslung. Die Leichen sind verwechselt worden, Sie verstehen. Es war ein anderer armer Soldat, und jetzt ist natürlich dessen Familie informiert worden.
    »Machen Sie einfach weiter.« (Von Major Richards’ Mütze tropft das Regenwasser.) »Machen Sie so weiter wie bisher.«
    Und zum ersten Mal wünscht Ellie sich, dass Tom nicht tot wäre. Wünscht es sich aufrichtig.
    Heißt das, sie hatte ihn sich tot gewünscht? War das die Logik? Hatte sie sich das wirklich gewünscht? Wärst du doch
nicht
hier? Jetzt wünscht sie sich, dass er nicht tot wäre, und einen Moment lang wünscht sie sich sogar, sie wäre
er
. Nicht Major Richards, sondern Tom. Sie wünscht sich, sie wäre Tom, in seiner Soldatenuniform, und raste mit Vollgas den Beacon Hill rauf, um zu beweisen, dass Major Richards’ zweiter Besuch   – kurz, wundersam, während des Unwetters   – kein bedauernswerter Irrtum war.
    Noch nie seit der Nachricht von Toms Tod hat Ellie ein so körperliches Empfinden von seiner lebendigen Nähe gehabt   – einem großen, kräftig gebauten Corporal   –, und als sie in ihrer Eile, zu einem anderen Mann zu gelangen, vor dem Cottage mit einem Schlenker zum Halten kommt, schnürt sich ihr zu ihrer Verwunderung die Kehle zu, ihre Augen füllen sich mit
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