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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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denoberen Decks; er wollte nicht gesehen werden. Er stellte sich an die Reling. Es wurde dunkel. Der Wind, der im Laufe des Tages zugenommen hatte, brauste um ihn herum. Eine tiefe atlantische Front zog näher.
    Würde Ellie da sein? Wollte er, dass sie da war? Würde er es als letztes Signal deuten, wenn sie nicht da war, sodass er sich gleich das Gewehr nehmen konnte? Auch jetzt mied er es, sein Mobiltelefon zu benutzen, dabei wäre es das Natürlichste und Normalste gewesen. Aber da er sein Schweigen so lange durchgehalten hatte, wäre es vielleicht ein zu monumentaler Schritt gewesen. Seine Stimme hätte wie die eines Mannes klingen können, der als vermisst galt. Ellie, ich bin auf der Fähre, ich bin auf dem Weg.
    Wie war Tom gestorben?
    Mit einem Scheppern der Auffahrrampe und dem Aufwühlen des Wassers legte die Fähre vom Ufer ab. In Portsmouth waren die Lichter angegangen und spiegelten sich im Hafenwasser, aber es war noch nicht Nacht, und im Westen glühte noch immer der Himmel. Außerhalb des geschützten Hafens verband sich der böige Wind mit dem Vorwärtsstampfen des Schiffes zu einem stetigen, bitteren Brausen. Ein paar Hartgesottene, die den Sonnenuntergang betrachten oder einen Moment lang das Gefühl haben wollten, auf hoher See zu sein, blieben an der Reling stehen. Und einige von ihnen hätten in ihrer Nähe einen Mann bemerken können, einen großen, kräftig gebauten Mann von fast einschüchternder Statur, der nach etwas in seiner Brusttasche tastete, das er einen Augenblick mit der Hand fest umschlossen hielt und dann weit aufs Meer hinauswarf.
    Der Gegenstand, obwohl klein, musste aus Metall gewesen sein und recht schwer, denn nachdem er einen Augenblick lang im Kupferschein des Sonnenuntergangs aufgeblitzt war, schnitt er sauber durch den Wind und tauchte in die Wellen.

34
    Ellie sitzt in der Haltebucht am Holn Cliff, ohne Bewunderung für den Ausblick. Selbst die Möwen sind verschwunden, als hätte das Grau sie verschluckt.
    Ein Ende ist nicht in Sicht. Sie könnte ewig hier sitzen, oder sie könnte losfahren und die Isle of Wight auf ewig umrunden. Auf der Insel gefangen, so oder so. Es sei denn, sie würde sich wirklich losschlagen. Über das Wasser, mit der Fähre (bei diesem Wetter?). Wie Jack vor zwei Tagen. Aber wohin würde sie fahren?
    Oder   … der Gedanke kommt ihr wie eine müßige, abstrakte, absurde Idee in den Sinn: Sie könnte über den regennassen Grünstreifen fahren, mit Macht durch die wankende Hecke brechen und weiterfahren. Sich so freischlagen. Sie ist die Tochter eines Farmers, sie weiß, wie man einen Wagen mit Allradantrieb über ein schlammiges Feld steuert. Aber das, ist ihr klar, passt nicht zu ihr.
    Dennoch sieht sie zum Rand der Klippen hinüber und erwägt die Möglichkeit wie eine boshafte Verführung, die ihr gerade ins Ohr geflüstert wurde. Und dann kommt ihr der andere Gedanke, der überhaupt nicht müßig oder abstrakt ist, sondern mehr wie ein Stoß durch ihr Herz. Sie ist die Tochter eines Farmers, und früher   – als sieerst sechzehn war, aber schon einen Land Rover fahren konnte   – konnte sie mit einem Gewehr umgehen.
    Das Gewehr. Das verdammte Gewehr, nie hatte er es über sich gebracht, es loszuwerden. Nie konnte sie ihn überreden, sich davon zu trennen. Warum hatte er es behalten? Gab es auf dem Platz eine Kaninchenplage? Das Gewehr, das er die ganze Zeit im Schrank hatte, als wäre es sein eigener Dad. Das Gewehr, von dem sie   – völlig absurd und nur, um auf Empörung mit weiterer Empörung zu antworten   – gesagt hatte, dass er es möglicherweise selbst auf seinen Dad gerichtet hatte.
    Ellie pocht das Herz. Ihr ist völlig entgangen, dass sie Jack in diesen   – extremen   – Umständen allein im Haus gelassen hat, mit einem Gewehr. Wenn für sie keine fünfzig Meter entfernt eine Möglichkeit liegt, dann trifft das auf ihn genauso zu. Und er hat einen Präzedenzfall dazu.
    Ein gewaltiger Schreck durchfährt sie gerade in dem Moment, als die Heftigkeit des Unwetters kurzfristig nachlässt. Vor ihr liegt Holn Head, dunkel, aber deutlich, die Konturen erkennbar, wie ein Schiff, das stur seinen Kurs hält. Noch immer umhüllen die Wolken Beacon Hill, doch das hindert Ellie nicht zu glauben, dass sie in der Ferne, an genau der entsprechenden Stelle, ein winziges Licht aufblitzen sehen kann.
    Mein Gott! Der Motor des Cherokee springt an, als hätte nicht ihr Handgriff das bewirkt, sondern das wild klopfende Herz in ihrer
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