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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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Tränen, und sie ruft schluchzend, als wäre sie die Ehefrau, Geliebte, Mutter oder Schwester des armen toten Mannes: »Oh, Tom! Du armer, armer Tom!«
    Und kaum hat sie das ausgerufen, vergeht das Gefühl von Toms Nähe (die militärische Gegenwart war seine).
    Sie stellt den Motor ab. Trotz der erleuchteten Fenster sieht das Cottage verlassen aus. Der Regen prasselt hernieder. Das Allerschlimmste wäre jetzt, wenn sie im Haus einen Schuss hören würde. Das Allerbeste wäre, wenn sich die Tür öffnete. Die Tür bleibt geschlossen.
    Nach ihrer wilden Fahrt gibt es keinen logischen Grund, warum sie nicht so schnell wie möglich aussteigt und selbst die Haustür aufmacht. Aber sie bleibt hinter dem Steuer sitzen   – wie lange erlaubt man einem solchenMoment, sich auszudehnen?   –, weil sie Angst vor dem hat, was sie vorfinden wird. Oder weil sie sich wünscht, einen Augenblick lang, dann noch einen, in der Zeit zu bleiben, bevor sie es herausfindet. Oder weil sie sich wünscht, dass wundersamerweise das andere eintritt: Dass die Tür aufgeht.
    Dann geht die Tür auf.
     
    Sie geht langsam und vorsichtig auf, als würde sie von einem Menschen geöffnet, so denkt sie später, der halb zweifelnd von einem schrecklichen Ort zurückkehrt, oder von einem Menschen, der voller Verzweiflung Schutz gesucht hat und gerade erfährt, dass jetzt die Luft wieder rein ist, ganz und gar rein, und er sich rauswagen kann. Ellie macht die Fahrertür auf, und vielleicht sehen sie beide in dem Moment, da ihre Blicke sich treffen, so aus, als hätten sie ein Gespenst gesehen. Jack steht in der Tür, in den Händen vor sich ausgestreckt ein langes, schlankes Gerät, bei dessen Anblick, wäre das Licht schlechter gewesen oder hätte Ellie es aus einem anderen Winkel gesehen, ihr ein Schauder über den Rücken gelaufen wäre.
    Aber sie sieht, was es ist. Im Kofferraum liegt genau das gleiche Modell.
    Jack hat Mühe, ihn aufzuspannen, ringt mit dem Öffnungsknopf. Dann spannt er den Schirm auf und verschwindet einen Moment lang unter dem Kreis des sich entfaltenden Daches. Durch den niederprasselnden Regen sieht Ellie vor sich das Aufleuchten der schwarzen und gelben Segmente und das Wort »Lookout« in Abständen um den Rand herum. Dann sieht sie Jack, derein paar Schritte nach vorn macht und den Schirm unsicher über sich und vor sich hält, ein bisschen wie ein unbeholfener Portier.
    »Warte«, sagt er mit heiserer Stimme.
    Aber Ellie wartet nicht. Sie macht ein paar Schritte durch das Nasse, sodass sie Jack auf halbem Weg begegnet, und denkt dabei: Was wir alles nie erfahren.
    Und zu dem, was sie niemals erfahren wird, gehört, wie Jack eine Zeit lang, die er nicht bemessen kann, das Gewehr auf seinen protestierenden, aber nicht vom Fleck weichenden Bruder gerichtet hatte, was nie seine Absicht gewesen war. Wie er so schockiert davon war (und seine Absicht so fest), dass er seine Haltung nicht ändern noch die Tatsache begreifen konnte, dass der Anblick, den er selbst bot, keinesfalls außergewöhnlicher war als der, den er vor sich sah. Wie ihn dann ein zweiter Schock traf, denn es war, als hätte er nicht Tom gesehen, sondern sich selbst im Spiegel.
    Aber Tom stand vor ihm, und Jack richtete das Gewehr auf ihn.
    Ellie wird außerdem nie erfahren, wie sich gleichzeitig mit dem Schock, den Jack verspürte, eine kleine, unerklärliche Explosion der Freude ereignete. Tom war da, hier im Cottage. Wie Jacks Gesichtsmuskeln erst erstarrten, sich dann lösten. Wie er das Gewehr gesenkt hatte, obwohl er wusste, dass er das mit dem Verschwinden seines Bruders bezahlen musste, doch war dieser Preis längst nicht so hoch wie der dafür, das Gewehr nicht zu senken, und in dem Moment, da er es senkte, wusste er auch (und wusste, dass Tom es wusste), dass es nie wieder abgefeuert werden würde.
    Wie er da gestanden und jetzt auf nichts weiter als eine geschlossene Tür gestarrt hatte, und wie er gezittert und nach Luft gerungen hatte, als wäre er selbst von den Toten zurückgekehrt, und wie er vielleicht sogar gestöhnt hatte: »Tom, um Gottes willen, hilf mir.«
    Wie plötzlich die Fähigkeit, sich zu bewegen, in ihn zurückgekehrt war. Wie er dann in schwindelerregender, atemloser Hast die Handlungen rückgängig gemacht und in der sehr begrenzten Zeit, die er hatte (obwohl er vor wenigen Minuten das Gefühl gehabt hatte, die Zeit verlangsame sich und dehne sich in aller Ruhe aus), all die auffälligen Dinge wieder an ihre Plätze gebracht
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