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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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kränklicher Junge, dessen Lunge bei jedem Atemzug pfiff. Seine Atemprobleme machten ihn bei den rücksichtslosen Jungenbanden und ihren derben Spielen zum Außenseiter. Genauso animierte Aris Hinken seine Klassenkameraden zu unbarmherzigem Spott. Beide zogen sich in sich selbst zurück und erkannten im jeweils anderen den gleichen Charakterzug wieder, und beide hatten in ihrer eigenen Welt und
Sprache schon früh Zuflucht bei Dichtern, Essayisten und Philosophen gefunden.
    Was bislang eine lästige gelegentliche Fahrt nach Jerusalem gewesen war, wurde ein willkommener wöchentlicher Ausflug, denn Ari erwartete nun Hasan, und sie verbrachten Stunden damit, einander Wörter wie »Apfel«, »Orange«, »Olive« auf Arabisch, Deutsch und Englisch beizubringen. »Die Zwiebeln kosten einen Piaster das Pfund, gnädige Frau«, übten sie. Hinter dem Karren mit seinem in Reihen angeordneten Obst und Gemüse machten sie sich lustig über die arabischen Stadtjungen, ihre affektierte Sprechweise und ihre ausgefallenen Kleider, die kaum mehr als eine Zurschaustellung serviler Bewunderung für die Briten waren.
    An den Wochenenden begann Ari sogar die traditionelle arabische Tracht zu tragen, und oft fuhr er mit Hasan nach Ein Hod. Durch das Eintauchen in die Klangwelt der arabischen Sprache und in die Aromen der arabischen Küche erlangte Ari respektable Kenntnisse der fremden Sprache und Kultur. Dies war mit ein Grund dafür, dass er Jahrzehnte später als Professor an die Universität Hebron berufen wurde. Hasan wiederum lernte Deutsch zu sprechen, las sich holpernd durch einige englische Werke in Dr. Perlsteins Bibliothek und begann, die Traditionen des Judentums zu schätzen.
    Frau Perlstein liebte Hasan und war dankbar dafür, dass er sich mit ihrem Sohn angefreundet hatte, und Basima brachte Ari ebenso starke mütterliche Gefühle entgegen. Obwohl sie sich niemals trafen, lernten die beiden Frauen einander über ihre Söhne kennen, und jede schickte den Sohn der anderen mit Bergen von Essen und Leckereien nach Hause, ein Ritual, das Hasan und Ari widerwillig über sich ergehen ließen.
    Mit dreizehn, ein Jahr vor seinem Schulabschluss, bat Hasan seinen Vater um Erlaubnis, mit Ari zusammen in Jerusalem
eine weiterführende Schule besuchen zu dürfen. Aus Angst, die Schule würde seinen Sohn davon abbringen, das Land, das er einmal erben würde, zu bebauen, sagte Yahya Nein.
    »Die Bücher wären dir nur im Weg. Du wirst nicht mit Ari zur Schule gehen, und das ist mein letztes Wort.« Yahya war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch Jahre später tadelte er sich selbst tief bestürzt und bedauerte, Hasan seinen Herzenswunsch abgeschlagen zu haben. Eines Tages, als die ganze Familie nicht weit entfernt von ihrem Zuhause, zu dem sie nie mehr zurückkehren würde, im Freien campierte, schutzlos der Gnade des Wetters ausgeliefert, bat Yahya seinen Sohn um Vergebung. Yahya war zum Flüchtling geworden, welkte in der Verwahrlosung des Exils zusehends dahin und weinte sich an Hasans nachsichtiger Schulter aus. »Vergib mir, mein Sohn. Ich kann mir nicht vergeben. « Und wegen dieser Entscheidung und wegen des Kummers, den sie ausgelöst hatte, beschloss Hasan, seinen Kindern mit dem Hungerlohn, den er für seine harte Arbeit erhielt, eine Ausbildung zu ermöglichen. Viele Jahre später sagte er zu seiner kleinen Tochter Amal: »Habibti, alles, was wir jetzt noch haben, ist die Bildung. Versprich mir, dass du dich mit ganzer Kraft in deine Ausbildung stürzt.« Und das kleine Mädchen gab dem Vater, den es bewunderte, sein Wort.
    Obwohl Hasan nicht das Privileg genoss, nach der achten Klasse weiter in die Schule gehen zu dürfen, erhielt er von Frau Perlstein, die ihren lernbegierigen jungen Schüler jede Woche mit Bergen von Büchern, Lernstoff und Hausaufgaben heimschickte, ausgezeichneten Privatunterricht. Basima und Frau Perlstein hatten den Plan mit den Privatstunden ausgeheckt, um Hasan aus der Niedergeschlagenheit zu reißen, die er nach Yahyas letztem Wort in Sachen Ausbildung empfand.
»He, Bruder!« Die jungen Männer umarmten sich, fassten sich bei den Händen und küssten einander auf beide Wangen, wie die Araber es tun. Sie entluden den Laster, nachdem sie den Fahrer mit einigen der anderen Straßenhändler bekannt gemacht hatten. Bevor sie den Weg zu Aris Haus einschlugen, strebten die Freunde durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt ihrem üblichen Genussziel zu. Von Bab al-Amud
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