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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief
Autoren: Susan Abulhawa
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dieser Zeit lernte Dalia, alleine zu reiten. Darwish hätte alles für sie getan, sie hätte bloß zu fragen brauchen. Während der zwei Jahre sprachen sie nie ein Wort,
nur am allerersten Tag. Wenn Darwish sie kommen sah, wandte er immer sofort seine Augen ab, um nicht unhöflich zu sein, dann drehte er sich um und hielt Ganush fest. Derweil zog sie ihre Thoba hoch – sie trug Hosen darunter –, bestieg das Pferd und ritt davon. Darwish wartete, bis sie zurückkam, und das ganze Ritual spielte sich rückwärts ab.
    Den Leuten im Dorf erschien Dalia wie eine wilde Zigeunerin, die aus den Gedichten und Farben der Beduinen gemacht war anstatt aus Fleisch und Blut. Manche glaubten sogar, das Kind sei vom Satan besessen, und überzeugten Dalias Mutter, einen Sheikh zu holen, der mit Koranversen den Teufel austreiben sollte. Die meisten aber dachten, das Mädchen würde schon irgendwann vernünftig werden. Man war sich einig, dass man Dalias Willen »brechen« musste. Sie war inzwischen fast vierzehn, und ihre kindische Sorglosigkeit musste ihr abgewöhnt werden.
    »Brich ihren Willen, schlag sie, erteil ihr eine Lektion!«, riet eine andere Beduinenfrau ihrer Mutter. »Schau nur, wie sie diese Orange isst! Welche Schande für ihre Familie! Alle Jungen starren sie an.« So dachte man im Dorf über Dalia. Das Klimpern ihrer Fußkettchen störte die Frauen. Aber noch mehr wurmte sie, dass Dalia nicht im Geringsten auf ihren Unmut reagierte. Sie dachte nicht daran, sich für irgendetwas zu entschuldigen, das konnte man aus ihrer Körpersprache ablesen, und das erinnerte die Frauen an das unwiederbringlich vergangene Glück, von dem sie sich einstmals freiwillig getrennt hatten. Dalias ungezügelte Sorglosigkeit hatte eine sexuelle Komponente, umso mehr, weil sie selbst nichts davon ahnte.
    Basima, Umm Hasan, hielt Dalia für eine gottlose Diebin ohne jegliches Schamgefühl, denn Dalia hatte das Pferd ihres Sohnes Darwish »gestohlen«, für eine heimliche Pause von der
knochenharten Erntearbeit. Niemand hätte überhaupt davon erfahren, wäre Dalia nicht vom Pferd gestürzt und hätte sich den Knöchel gebrochen. Die Wellen der Empörung schlugen hoch und weckten die Aufmerksamkeit von Hasan. Das ganze Dorf war in heller Aufregung. Darwish überlegte sich, wie er Dalia verteidigen könnte, aber er wusste, dass man sie noch viel schlimmer bestrafen würde, wenn herauskam, dass er an der Geschichte beteiligt gewesen war.
    Dalias Vater, dessen Ehre auf dem Spiel stand, schwor sich, der Frechheit seiner jüngsten Tochter ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Er band sie an einen Stuhl, der in der Dorfmitte aufgestellt wurde, und verbrannte ihr die Hand, die das Pferd gestohlen hatte, mit einem glühenden Eisen.
    »War es diese Hand? Streck sie aus, damit ich sie verbrennen kann«, forderte ihr Vater, bei den Dorfbewohnern nach Zustimmung heischend. Als Dalia ihre rechte Handfläche darbot, fügte er wütend hinzu: »Und wenn du schreist, verbrenne ich dir auch noch die andere.«
    Dalia gab keinen Ton von sich, als das glühende Metall die Haut ihrer rechten Hand versengte. Die Menge japste nach Luft. »Die Beduinen sind so grausam«, bemerkte eine Frau. Andere beschworen Dalias Vater im Namen Allahs, Gnade walten zu lassen, denn Allah ist gnädig. Al Rahman. Aber ein Mann muss zeigen, dass er der Herr des Hauses ist. »Meine Ehre darf nicht besudelt werden. Tretet zurück, das ist mein gutes Recht«, verkündete der Beduine. Es war sein gutes Recht. La hawla wala quwata illa bill-ah.
    Dalia schloss den Schmerz in sich ein, während der schreckliche Geruch von verbranntem Fleisch das Leben in ihrem Innersten ansengte. Ihr Dasein im Einklang mit der Natur, ihr im Winde flatterndes Haar, das Klimpern ihrer Fußkettchen, der süße Duft ihres Schweißes, wenn sie sich anstrengte, die Zigeunerfarben
in ihr – das alles wurde an diesem Tag zu einem Haufen Asche, mitten auf dem Dorfplatz, unter dem tiefblauen Himmel. Hätte sie geschrien, wäre das Feuer vielleicht nicht so weit in sie eingedrungen. Aber sie schrie nicht. Sie entdeckte einen Hasen und durchbohrte ihn mit ihrem hypnotischen Blick. Mit der Hand umklammerte sie den unvorstellbaren Schmerz und hielt ihn dort fest, während sie die Zähne zusammenbiss und stille Tränen weinte. Für den Rest ihres Lebens sollte Dalia die Angewohnheit haben, in bestimmten Momenten die Finger ihrer rechten Hand gegen die Handfläche zu reiben und die Kiefer wie einen Schraubstock
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