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Waechter des Labyrinths

Waechter des Labyrinths

Titel: Waechter des Labyrinths
Autoren: Will Adams
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dass anderen Leuten ihre Mitmenschen nicht scheißegal waren (oder wenigstens nicht ganz so scheißegal wie ihm)? Sie behaupteten es lediglich. Vielleicht war er nur ehrlicher als sie. Denn so wie er die Dinge sah, kümmerte sich eigentlich niemand darum, wie sich die anderen Menschen fühlten. Auf jeden Fall nicht ernsthaft. Jeder interessierte sich im Grunde doch nur dafür, was die anderen über einen selbst dachten. Sie gaukelten Betroffenheit vor, weil sie glaubten, man würde sie deshalb mehr respektieren oder lieben. Aber scheiß drauf, er wusste, welche Antwort sie haben wollte. Und daran würde sie am meisten zu knabbern haben, wenn er hier als freier Mann herausmarschierte.
     
Fehlende Empathie. Abgehakt.
Fehlende Reue. Abgehakt.
     
    Obwohl er eigentlich nie verstanden hatte, warum so ein Theater um Reue gemacht wurde. Um ein so unaufrichtiges Gefühl. Wenn man die Konsequenzen seines Handelns nicht ertragen konnte, sollte man eben anders handeln und nicht darüber jammern. Und vor allem sollte man sich niemals erwischen lassen. Michail konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand das letzte Mal Reue gezeigt hatte, bevor er erwischt worden war. Nein, Reue sollte man Politikern und Fernsehpredigern überlassen.
     
Als Jugendlicher häufig in Schwierigkeiten. Obwohl es nie seine Schuld gewesen war: Abgehakt.
Ein parasitärer Lebensstil.
     
    Die Wortwahl ärgerte ihn. Er war kein Parasit, die Leute wussten lediglich, dass sie ihm etwas schuldig waren, weil er der Mensch war, der er nun einmal war. Aber drauf geschissen, es lief gerade so gut. Abgehakt .
    Er schaute sie an. «Wo wohnen Sie?», fragte er. «Irgendwo in der Nähe?»
    «Füllen Sie einfach den Fragebogen aus.»
    «Wir sollten mal was trinken gehen, wenn ich draußen bin.»
    «Ich treffe keine Verabredungen fünfzig Jahre im Voraus.»
     
Krankhafte Unehrlichkeit. Er müsste lügen, wenn er das Gegenteil behaupten würde. Abgehakt.
Grausamkeit gegenüber Menschen und Tieren.
     
    «Meinen Sie mit Grausamkeit körperliche Gewalt?», fragte er. «Oder schließt das auch seelische Grausamkeit ein?»
    «Würde das einen Unterschied machen?»
    Guter Einwand. Abgehakt.
     
Sieht sich außerhalb des Gesetzes oder über dem Gesetz stehen. Abgehakt.
     
    Als er wieder aufschaute, sah er, dass sie ihn anstarrte. Er lächelte verständnisvoll, doch sie schaute hochnäsig weg, als wäre Michail so weit unter ihrer Würde, dass es schon eine Zumutung war, mit ihm in einem Raum zu sein. Als wäre sie gezwungen, das alles über sich ergehen zu lassen. Aber er hatte sie nicht zu dem Besuch gezwungen. Auch das Gericht hatte sie dieses Mal nicht hergeschickt. Nein. Sie war aus eigenem Antrieb gekommen.
     
Überhöhte Phantasien von Macht und Erfolg.
     
    Ja, dachte er. Letzte Nacht habe ich davon geträumt, dich flachzulegen, du Schlampe. Abgehakt.
     
Übertriebene Sexualität.
     
    Wieder hielt er inne. «Meinen Sie damit, dass ich meine Sexualität übertreibe? Oder dass mein Sexualtrieb ungewöhnlich groß ist?»
    Sie lächelte ihn schmallippig an und wollte sich nicht aus der Reserve locken lassen. «Letzteres.»
     
Übertriebene Sexualität. Abgehakt.
     
    «Haben Sie deswegen beim Masturbieren an mich gedacht?»
    «Beenden Sie einfach die Liste.»
    «Haben Sie sich mich beim Masturbieren nackt vorgestellt?»
    «Der Fragebogen, bitte, Mr.   Nergadse.»
    «Sagen Sie Michail, bitte.»
     
Verlangt von seinen Mitmenschen sofortige und absolute Unterordnung. Abgehakt.
Oberflächlicher Charme.
     
    Er zögerte erneut. «Oberflächlich?», fragte er.
    Sie runzelte die Stirn, offenbar überrascht, dass er über ein so geläufiges Wort stolperte. «Oberflächlich bedeutet, äh, an der Oberfläche, also äußerlich.»
    Michail spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Wieder einmal wurden seine osteuropäischen Wurzeln und sein Akzent mit Dummheit verwechselt. Das war ihm während seiner Jahre im Exil in England und in Amerika so häufig passiert, dass er eigent-lich daran gewöhnt sein müsste, aber es überraschte ihn immer noch. Andererseits hatte ihn der Knast gelehrt, Ruhe zu bewahren und auf seine Chance zu warten. Und die würde kommen. «Ich weiß, was das Wort bedeutet», sagte er, als er sich beruhigt hatte. «Ich möchte nur wissen, was Sie damit meinen. Charme ist doch von Natur aus oberflächlich, oder? Ich denke, das Wort, das Sie suchen, ist ‹falsch›, nicht wahr?»
    Sie errötete leicht. «Ich schätze, falsch würde … ja, das würde passen.»
    Er
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