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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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beeindrucken! Allerdings wäre es genau so lange unschick, bis der nächste aufstrebende Anders-Seier merkt, dass das so uncool ist, dass es schon wieder cool ist, und zack würde es Sinn machen, »Teppich Kibek«-Aktien zu kaufen.
    Kurz wird mir von der plötzlich bemitleidenswert erscheinenden Hoffnungslosigkeit der jungen Kreativen schwindelig, und dann fällt mir ein, dass mir die Immobilien der anderen egal sein müssen, schließlich habe ich genug eigene Immobilienprobleme.
     
    Im dritten Stock (runtergerockter Lastenaufzug, natürlich) des zweiten Hinterhofes komme ich in einen großen Raum voller zarter Casting-Bewerberinnen, die für die Rolle schon perfekt geschminkt sind. Ihre toupierten Mad-Men-Haare, dominanten Augenbrauen und breiten Lidstriche stehen ihnen so dermaßen gut, dass man meinen könnte, das Jahr 2011 sei nur peinlich unrealistischer futuristischer Humbug. Ich atme tief durch, murmle irgendwas in die Runde und setze mich auf die mir zugewiesene Sitzgelegenheit (Gynäkologen-Stuhl, original 40 er Jahre, megawitzig) vor den Maskenspiegel.
    Während lustlos an mir rumgemalt wird, versuche ich, im Geiste noch mal die auswendig gelernten Sätze zu rezitieren. Um mich herum aufgeregtes Gekicher und Geflüstere und Händegeknete und Klamottengerichte. Ich bin ein bisschen neidisch auf diese ganze Nervosität. In mir fühlt sich alles abgefuckt und entnervt an. Ich hasse das Drehbuch, ich hasse den Charakter, den ich spielen soll, und ich bin mir fast sicher, dass ich als Schauspielerin überhaupt nichts tauge. Eine Tatsache, die durchaus nicht an meiner Eitelkeit kratzt, allerdings die Wahl meiner Möglichkeiten für ein erfülltes Leben ein weiteres Mal einschränkt.
    Nachdem die Schminkefrau fertig ist und sich, ohne meine Reaktion auf ihr Werk abzuwarten, wortlos einen Kaffee holen geht, sehe ich in den Spiegel und bin kaum verwundert: Ich sehe aus wie Heinz Rühmann in »Charley’s Tante«. Make-up kann aus irgendeinem Grund leider überhaupt nichts für mich. In dieser Situation besonders schade, denn jeder hier im Raum sieht aus wie die atemberaubende Betty Draper, nur ich sehe aus wie ihr Mann Don, der in Bettys Schminkkoffer übernachtet hat.
    Ich fühle mich plötzlich sehr erschöpft, mache mit dem Handy ein Bild von mir und schicke es unkommentiert an Flo. Wenige Sekunden später antwortet er: » HEINZ ! ICH FAND DICH GROSSARTIG IN › DIE FEUERZANGENBOWLE ‹!« Mein Magen zieht sich vor Liebe schmerzhaft zusammen, und dann soll ich in den Raum, in dem das eigentliche Casting stattfindet.
    Es ist stickig. In dem eher kleinen und merkwürdigerweise fensterlosen Raum stehen der Regisseur, ein Kameramann und »Bobby«, der bullige männliche Platzhalter für den Hauptdarsteller. Neben dem ganzen verklärt romantischen und schlecht geschriebenen Bullshit, den ich gleich vorspielen muss, gibt es auch eine Kussszene, vermutlich der einzige Grund, warum sich das Hauptdarsteller-Surrogat als Sparringspartner zur Verfügung stellt. Augenscheinlich wurde grad ein grandioser Witz gemacht, »Bobby« fasst sich zumindest beherzt zwischen die Beine und lacht ein Lachen, das er selbst vermutlich gern als dreckig bezeichnen würde. Als mein Eintritt bemerkt wird, schaltet er sofort um und beflirtet mich mit der Leidenschaft und Professionalität eines Callboys, wohl um die Kleine locker zu machen. Und zwar so locker, dass ich nicht vor seiner Zunge erschrecke, die er mir wenige Minuten später, während der halbgaren Bettszene, in den Mund steckt. Eine Zunge, die schon mindestens zehn überraschte Betty Drapers vor mir im Mund hatten. Ein nahezu bewundernswerter Einsatz. Diese Schauspieler, immer bemüht, das Beste aus einer Szene rauszuholen.
    Aber damit kann ich umgehen. Schwieriger sind, wie erwartet, die Sätze, die ich sagen soll.
    » WENN DU NICHT BEI MIR WÄRST , WÜSSTE ICH NICHT , WAS ICH TUN WÜRDE .«
    » GLAUBST DU , DASS DU MICH HÖREN WÜRDEST , WENN ICH DICH RUFE ? EGAL , WIE WEIT DU WEG WÄRST ?«
    » ICH WÜRDE DICH IMMER HÖREN . ÜBER OZEANE HINWEG WÜRDE ICH DICH HÖREN (fängt an zu weinen).«
    Ist das wirklich etwas, das man in den 50 er Jahren zueinander gesagt hat? Wenn man verliebt zusammen im Bett lag? Ich versuche, die Worte so entspannt wie möglich aus mir herausfallen zu lassen. Aber ich höre mich und klinge hohl. Unglaubwürdig.
    Und dann das Weinen. Natürlich will man echte Tränen. Und zwar gern auf der Stelle. Ich bin sicher, dass vermutlich noch nicht einmal die
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