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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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können.
     
    »Noch schnell ’nen Kaffee irgendwo?« Flo möchte die misslungene Besichtigung noch ein bisschen feiern, seine Erleichterung zu verstecken fällt ihm schwer. So ist das bei Flo. All seine Gefühle sind sofort sichtbar. Liegen auf seinem Gesicht wie ein teurer, schimmernder Puder. Eine der seltensten und vor allem schönsten menschlichen Eigenschaften, die ich kenne. Ich kann sogar kurz meine Enttäuschung vergessen und verliebt sein.
    »Ich kann nicht. Ich muss jetzt zu diesem Casting.«
    »Ah, der Drecksfilm?«
    »Der Drecksfilm!«
    »Dann viel Glück! Du weißt, ich werde dich immer lieben! Egal, wie dreckig das Drehbuch ist, richtig?«
    »Richtig.«
    »Es sei denn, es handelt sich um einen Sat. 1 -Zweiteiler mit Veronica Ferres, dann müssen wir uns trennen. Aber das verstehst du, stimmt’s?«
    »Absolut.«
    Ich küsse Flo auf den Mund, versuche mit wenig Erfolg, seine aufgeregten Haare zu glätten, und küsse ihn noch mal.

E s ist tatsächlich ein Drecksfilm. Zumindest ist das Drehbuch eines der schlechtesten, das ich je gelesen habe. Auf der anderen Seite bin ich weder professionelle Schauspielerin noch professionelle Drehbuchleserin. Ich bin ein »Face«. Also die hippe Variante von einem Model. Aber auch nur ab und zu, und vor allem nicht professionell. Professionell bin ich gelernte Herrenschneiderin, und meine Modeltätigkeit beschränkt sich darauf, dass ich seit ein paar Jahren auf dem Boden der Kartei einer Agentur für »Spezielle Models« rumkullere. Was im Prinzip bedeutet, dass ich bei weitem nicht hübsch genug bin, um als normales Model durchzugehen. Leider bin ich aber auch nicht, wie das Credo der Agentur vermuten lassen sollte, speziell genug, um auf eine lässige Berlin-Mitte-Art in glänzenden 80 er-Jahre-Spandex-Overalls bei »American Apparel« rumzuhängen. Dass ich überhaupt in einer Agentur bin, liegt einzig und allein daran, dass ich vor fünf Jahren zufällig in der U-Bahn für eine ziemlich gutbezahlte Werbung gecastet und auch besetzt wurde. Seitdem latsche ich regelmäßig unmotiviert zu Castings, auf die ich keine Lust habe, streite mich dort mit den Kreativen/Fotografen/Masken rum und hinterlasse so wenig Feenstaub wie möglich. Dass ich jetzt überhaupt zu dem Drecksfilmcasting unterwegs bin, liegt einfach daran, dass es um die Hauptrolle geht. Das reizt kurzfristig sogar mich.
    Der Drecksfilm spielt in den späten 50 er Jahren und macht mir leider, seit ich das Drehbuch gelesen habe, schlechte Laune. Außerdem weiß ich gar nicht so richtig, ob und wie gut ich wirklich schauspielern kann: Wie viele akzeptable Arten gibt es denn bitte, einen Satz wie »Die Nachtigall hat aufgehört zu singen. Ich habe Angst, dass ich schwanger bin, Bobby« zu sagen?
    Ich steige missmutig aus der Straßenbahn und suche einfach nach dem nächsten alten Fabrikgebäude. Die Wahrscheinlichkeit, dort das Studio für das Casting zu finden, ist so hoch, dass ich gar nicht auf die genaue Adresse sehe, die mir meine Agentin per SMS geschickt hat. Und sosehr ich heimlich wünschte, mal überrascht zu werden und in einen fiesen Nachkriegsneubau geschickt zu werden oder über einen ungepflegt wirkenden Hundesalon, habe ich recht. Knapp fünfzig Meter von der Haltestelle entfernt steht ein Backsteingebäude mit zwanzig verschiedenen Label-Schildern am Eingang. Die ursprüngliche Leuchtreklame aus den 20 er Jahren (»Schicke Mode für sie und ihn«) hat man natürlich erhalten. Ironie kommt nie aus der Mode. Unfassbar, wie viele Modelagenturen, Caster, Fotografen und Werbespacken ihre »Locations« immer noch in Lofts haben. Man sollte meinen, dass dieser Pulk von Kreativen, Outlaws und Grenzgängern mehr Anspruch an die eigene Einzigartigkeit hätte. Andererseits ist es dieser Tage wirklich schwer, noch gegen einen Strom zu schwimmen, wenn doch in alle Richtungen geströmt wird. Man kann ja gar nicht mehr gegen das Establishment sein, wenn besetzte Häuser als nonchalant gelten, die eigenen Eltern sich bei uns Gras ausleihen, um abends bei einem Weinchen mit Freunden zu kiffen, Nena penetrant Chucks und Charlotte Roche Schluppenbluse und Gretchenfrisur trägt. In welche Richtung soll man sich denn noch wenden, um anders zu sein? Also was wäre eine lässigere Variante für ein Büro? Vielleicht was am traurigen Ku’damm? Zweiter Stock überm »Pimkie«? Oder zwei kleine Räume in der obersten Etage von »Wertheim«? Irgendwas mit niedrigen Styropordecken und Teppich? Das würde mich
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