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Wachstumsschmerz

Wachstumsschmerz

Titel: Wachstumsschmerz
Autoren: Sarah Kuttner
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allerdings benennen wir nur, um sie strategisch zu benutzen. Denn sie geben den Pro-Gründen Rückenwind. Du bist gerne alleine ab und zu? Jeder kann sein eigenes Zimmer haben! Manchmal schläfst du auch gern allein? Easy! Zwei Betten! Du hast Angst, dass das unsere Beziehung zerstört? Quatsch! Kuck dir doch die anderen an!
    Und notfalls ziehen wir halt wieder auseinander.
    Dass das mit ziemlicher Sicherheit eine Zerreißprobe für eine Beziehung wäre, die elchtestähnliche Ergebnisse bringen würde, verschweigen wir einander. So etwas gibt es nämlich nicht in unserem Bekanntenkreis. Eine Beziehung, die ein einvernehmliches Auseinanderziehen überlebt hätte.
    Und so haben wir, dem dringenden Bedürfnis nach Manifestierung, Erwachsensein und Alltagsromantik folgend, einfach beschlossen, dass es das ist, was wir wollen: zusammenleben.
     
    Die Wohnungssuche ist kräftezehrend. Obwohl wir beide könnten, habe ich für dieses Projekt die treibende, nicht unhysterische Rolle übernommen. Ich kümmere mich um alles. Surfe auf allen Immobilienportalen, telefoniere mit Maklern und Verwaltern, vereinbare am laufenden Band Besichtigungstermine und flirte, wenn nötig, mit Vormietern und potentiellen Entscheidungsträgern.
    Die ersten Monate der Wohnungssuche haben noch irren Spaß gemacht. Der Immobilienmarkt, hauptsächlich über das Internet betrachtet, schien reichhaltig wie ein pralles Füllhorn. Die Preisklasse, in der wir suchen, liegt im oberen Mittelmaß, Einschränkungen sind lediglich unser Wunschbezirk und dass die Wohnung uns eben zu mindestens fünfundachtzig Prozent gefallen muss.
    Wobei Flos fünfundachtzig Prozent in etwa da liegen, wo auf meiner Skala fünfundvierzig Prozent sind. Das Einzige, was ihm wirklich wichtig ist, ist ein Balkon. Ich halte das für überflüssig, da wir in Park-Nähe suchen und eh nie auf unseren jetzigen Balkonen sitzen. Ein Balkon ist meiner Meinung nach ein zu vernachlässigendes Prestigeobjekt, und außerdem reduziert er die Anzahl der Angebote um etwa fünfzig Prozent. Das ist ein Fakt. Dass Flo einen Balkon will aber eben auch. Sei’s drum.
    Nach ein paar Wochen trostloser Besichtigungen und nachlassender Flirtbereitschaft gegenüber Arschlochmaklern ist meine Hoffnung inzwischen im Parterre angekommen. Mir fällt auf, dass in dem scheinbar berstenden Füllhorn immer die gleichen schwervermittelbaren Wohnungen stecken, deren okaye Fotos oft über Erdgeschosslage, schlimm geflieste Bäder ohne Wannen, winzige Küchen und schlecht geschnittene Räume hinwegtäuschen. Gleichzeitig bin ich nicht gewillt, in einen anderen Bezirk zu ziehen oder sonstige Abstriche zu machen. Ich bin zweiunddreißig, ich möchte in den nächsten zehn Jahren nicht noch einmal umziehen, in dieser Wohnung soll zumindest ein bisschen altgeworden werden, und das geht nicht, wenn man mit dem verklärten und anspruchsarmen Auge eines Kunststudenten sucht.
    Flo kommen meine hohen Ansprüche und die damit erschwerten Bedingungen für einen baldigen Wohnungsfund entgegen. Obwohl unausgesprochen, hadert er viel mehr als ich mit diesem großen Schritt. In Flo wohnt ein ewig Sechzehnjähriger, der dem Erwachsensein und den damit verbundenen Veränderungen zwar mit Interesse, aber auch mit Unbehagen gegenübersteht. Obwohl im Grunde nichts gegen das Zusammenziehen spricht, löst der Gedanke daran regelmäßig Panik in ihm aus. Auch wenn er das nicht zugibt, kann ich es in seinen Augen sehen. In unzähligen Gesprächen hat er immer wieder beteuert, dass er bereit ist, dass er sich freut, dass er will, dass der Gedanke an ein gemeinsames Heim nur ungewohnt, nicht aber angsteinflößend sei. Doch sobald eine Besichtigung ansteht, wird mein lauter, lustiger und mutiger Freund ganz seltsam starr. Die Furcht, dass es diesmal die richtige Wohnung sein könnte und somit sein gewohntes Leben ein jähes Ende nehmen könnte, lähmt ihn. Aber nachdem ich ihm immer wieder verschiedene Notausgänge angeboten habe, deren Nutzung er wiederholt ausgeschlagen hat, sehe ich es als erzieherische Maßnahme, die Suche durchzuziehen und Flos Sorgen zu ignorieren. Zumal in meinem Kopf kein Platz für seine Ängste ist, meine nehmen genug Synapsen für sich in Anspruch. Was ich brauche, ist ein Gefühl von Sicherheit, die Bestätigung, dass wir das Richtige machen. Wenn Flo mir das nicht geben kann, muss ich damit leben, aber ich werde nicht auch noch seine Ängste zu meinen hereinlassen, damit sie gemeinsam runter zum Spielen gehen
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