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VT02 - Der gierige Schlund

VT02 - Der gierige Schlund

Titel: VT02 - Der gierige Schlund
Autoren: Michael M. Thurner
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für sich in Besitz genommen hatten.
    »Er war mit ein paar Kriegern losgezogen, bevor wir zurückkehrten«, klärte Nabuu ihn auf, »als Spähtrupp, der erste Erkenntnisse sichern sollte.«
    Kinga nickte. Omoko galt als eiskalter, berechnender Mann, der selbst in höchster Not all seine Sinne beisammen hielt. Wahrscheinlich hatte er mögliche Fluchtwege ausgekundschaftet, sollte sich die Situation für die Kilmalier neuerlich verschärfen.
    »Sie tragen etwas – oder jemanden – in ihrer Mitte«, sagte Nabuu. Er kniff die Augen zusammen und schattete sie mit einer Hand gegen den zunehmenden Sonneneinfall ab. »Eine menschliche Gestalt, vermutlich verletzt…«
    Die Prinzessin! Sie mussten sie gefunden haben! Verletzt, getötet, von den Gruh ausgesaugt?
    Kinga nahm sich nicht die Zeit, die schmale Treppe hinab zum großen Platz zu steigen. Er ließ sich einfach die doppelt mannshohe Brüstung hinunter fallen, rollte sich ab, kam auf die Beine und lief an den verblüfften Torwärtern vorbei auf den Erkundungstrupp zu.
    Er hatte versagt! Eigentlich hätte er an Omokos Stelle die Suche nach Lourdes aufnehmen sollen. Stattdessen hockte er hier, blies Trübsal und wartete darauf, dass ihm die Versammlung der Kilmalier für seine Suche ihre Absolution erteilte.
    Kinga lief, so rasch er konnte. Die Männer des Trupps winkten ihm müde zu. Sie trugen den Leib in ihrer Mitte wie einen schweren Sack. Ohne der Prinzessin eine Trage gebaut, ohne ihr den nötigen Respekt gezollt zu haben.
    Sie war tot. Anders konnte er sich diese Missachtung jeglicher Etikette nicht erklären.
    Die Müdigkeit des Geistes übertrug sich in Kingas Beine, in seine Arme. Kaum noch konnte er sich weiterbewegen. Die Entfernung von nicht einmal zweihundert Metern kam ihm nun unendlich vor.
    Endlich erreichte er Omoko. Der Chef der Defaans verdeckte den Blick auf das Opfer.
    »Es ist kein schöner Anblick«, sagte der Kilmalier. »Du solltest besser nicht…«
    Kinga schob ihn beiseite, ohne an die möglichen Konsequenzen einer derartigen Missachtung der Rangfolge zu denken. Er fiel auf die Knie, heftig keuchend und hustend. Schüttelte den schweren Kopf, um die Erschöpfung aus seinen Gedanken zu verbannen.
    »Lourdes«, flüsterte er. Alles verschwamm vor seinen Augen.
    Kinga tastete nach ihrem Kopf, halbblind, und schlug das Tuch beiseite, das ihn gnädig verhüllte.
    Im nächsten Augenblick schrie er entsetzt auf, stieß sich ab und zerschnitt sich am scharfkantigen Gestein Schenkel und Hüfte, als er rücklings davon krabbelte.
    Dies war nicht die Prinzessin.
    Die Männer um Omoko trugen einen Gruh in ihrer Mitte!
    Und das Wesen lebte noch!
    ***
    Die Versammlung begann mit einiger Verspätung.
    »Wir haben viele Tote und Vermisste zu beklagen«, rief Omoko in die Menge. »Soldaten der Prinzessin. Chérie, ihren Lakai. Lomboko der Raffzahn. Gonho, den Dueting. Den alte Kenzo und seine Tochter…«
    Die Liste war lang; sie umfasste mehr als fünfundzwanzig Menschen, die Kinga zum größten Teil persönlich gekannt hatte. Freunde, Kollegen, Bekannte, Liebschaften, Gönner, aber auch solche, denen er aus dem Weg gegangen war. Sie alle hatten die Nacht nicht überlebt.
    »Aber wir konnten einen der Schuldigen einfangen und herschaffen«, sagte der Chef der Defaans schließlich mit deutlicher Genugtuung in der Stimme. »Hier ist er!«
    Man warf das unsagbar hässliche Wesen schwungvoll in den Sand.
    Erschrockenes Gemurmel in der Menge. Dann Stille.
    Zwei Jugendliche näherten sich schließlich vorsichtig, berührten dessen Schulter mit den Fußspitzen und traten dem Gruh, nachdem er viel zu langsame Abwehrreaktionen zeigte, mit aller Gewalt in den Leib.
    Der Unheimliche ließ es geschehen. Sagte kein Wort. Zuckte nicht zusammen.
    »Und dennoch lebt er«, flüsterte Nabuu. »Er lässt alles über sich ergehen, ohne Schmerzen zu zeigen. Ab und zu atmet er röchelnd, spuckt Flüssigkeit aus und bleibt dann wieder ruhig.«
    Kinga konnte es nicht verstehen. Der Gruh wies drei fürchterliche Wunden auf. Sein ledriges Fleisch war am linken Arm, am linken Knie und im Magenbereich zerfetzt. Dinge traten daraus hervor, die Zerrbilder menschlicher Organe sein mochten.
    Ein Knochen, spitz und schmal, deutete wie ein mahnender Finger aus dem Loch nahe des Ellbogens ins Freie.
    »Ein lebender Toter«, flüsterte eine ältere Frau neben Kinga. Rasch verbreitete sich das Wort, wurde zu einem vielstimmigen Gemurmel, in das sich abergläubische Beschwörungen und
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