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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition)
Autoren: Robert Charles Wilson
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vierdimensionale Raumzeit subsummiert hatten. So alt wir auch waren, diese Entitäten waren älter. So groß wir geworden waren, sie waren größer. Wir bewegten uns unter ihnen, ohne dass sie Notiz von uns nahmen. Ignorierten sie uns oder bemerkten sie uns einfach nicht?
    Von meinem neuen Standpunkt aus konnte ich das Universum, das ich bewohnt hatte, in seiner Gänze sehen. Eine vierdimensionale Kugel in einer Wolke aus alternativen Zuständen – die Summe aller möglichen Quantenbahnen vom Urknall bis zum Zerfall der Materie. Die Realität – wie wir sie gekannt oder gefolgert hatten – war nur die wahrscheinlichste aller möglichen Bahnen gewesen; es gab zahllose andere Bahnen, die auf ihre Weise auch real waren: ein weites, aber endliches Spektrum von Pfaden, die nicht begangen wurden, ein gespenstischer Wald an Quantenalternativen, die Küsten eines unbekannten Meeres.
    Eine Botschaft in eine Flasche zu stecken, dann die Flasche zu verkorken und ins Meer zu werfen, ist ein donquichottischer Akt und umwerfend menschlich. Was würden Sie auf die Reise schicken? Eine mathematische Gleichung? Ein Bekenntnis? Ein Gedicht?
    Das ist mein Bekenntnis. Das ist mein Gedicht.
    Tief in dieser Wolke ungelebter Realitäten waren ungelebte Leben, verschwindend winzig, begraben unter Äonen und Lichtjahrhunderten, unwirklich nur, weil sie nie inszeniert oder beobachtet wurden. Und ich begriff, dass es in meiner Macht lag, sie zu verwirklichen – ich brauchte sie nur zu berühren. Die Folge eines solchen Eingriffs wäre ein neuer, unüberschaubarer Nebenfluss der Zeit, der nicht die alte Realität überspülen, sondern nebenherfließen würde. Der Preis wäre mein eigenes Bewusstsein.
    Ich könnte niemals diese vierdimensionale Raumzeit betreten. Jeder Eingriff von mir würde eine neue Realität erzeugen – auf Kosten meiner Fortdauer.
    Unentrinnbar ist nicht der Tod, sondern die Veränderung. Veränderung ist die einzige bleibende Realität. Das Metaversum entwickelt sich, fraktal und unaufhörlich. Heilige werden zu Sündern, Sünder werden zu Heiligen. Der Staub wird zu Menschen, Menschen werden zu Göttern, Götter werden zu Staub.
    Ich wünschte, ich hätte diesen Gedanken mit Turk Findley teilen können.
    Ich hätte in meine eigene potenzielle Geschichte eingreifen können, aber wozu? Meine letzte Tat sollte ein Geschenk werden, auch wenn ich die Konsequenzen dieses Geschenks nicht überblicken konnte.
    Tief im verspiegelten Korridor ungeschehener Ereignisse, in einem Motelzimmer am Rand von Raleigh, North Carolina, stellt eine Frau als Gegenleistung für ein braunes Plastikfläschchen mit einem Gramm Methamphetamin (wie sie glaubt) ihren Körper zur Verfügung. Der Mann ist ein Bauarbeiter auf dem Weg nach Kalifornien, wo ihm sein Cousin, ein Bauunternehmer, einen Job angeboten hat. Er trägt kein Kondom, als er in die Frau eindringt, und sofort nach dem vollzogenem Geschlechtsakt macht er sich aus dem Staub. Die Methamphetamin-Probe, die er ihr gibt, als er das Zimmer mietet, ist echt, aber das Fläschchen, das er auf der Anrichte zurücklässt, enthält nur Puderzucker.
    Orrin Mathers Existenz steht vom Augenblick seiner unrühmlichen Empfängnis an unter einem denkbar schlechten Stern. Seine magersüchtige Mutter bringt ihn vorzeitig zur Welt. Sein winziger Körper erleidet die Schmerzen einer Entziehungskur. Er überlebt, aber die Unterernährung seiner Mutter und ihre mehrfache Sucht haben ihren Tribut gefordert. Orrin wird nie so planen und handeln können, wie andere es tun. Er wird allzu oft überrascht sein – meist unangenehm –, welche Folgen sein Handeln hat.
    Ich kann keinen perfekten Menschen aus ihm machen. Das liegt nicht in meiner Macht. Ich kann ihm nur Worte geben. Und indem ich diese Worte in das Kleinhirn eines Kindes schreibe, löse ich mich selbst auf und verwirkliche eine Schattenwelt.
    Er liegt schlafend auf einer Matratze am Boden eines gemieteten Wohnwagens. Seine Schwester Ariel sitzt gut einen Meter entfernt auf einem Plastikstuhl, isst trockene Getreideflocken aus einer Porzellanschüssel und sieht fern. Den Ton hat sie leise gestellt. Im Traum spaziert Orrin über einen Strand, obwohl er Strände nur aus Filmen kennt. Er sieht etwas in der Brandung – eine Flasche, das Grün verblasst von Zeit und Sonne und Salzwasser. Er hebt sie auf. Die Flasche ist fest verschlossen, aber irgendwie geht sie auf, als er sie berührt.
    Papier fällt heraus und entfaltet sich in seiner Hand. Orrin
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