Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
Vom Netzwerk:
hintereinander Malcom Lowry, Burroughs und Hubert Fichte, dazu französische Filmzeitschriften und das Bändchen mit Trakl-Gedichten, was ich für eine zwar stimmige, aber höchst gefährliche Sammlung halte, die keinesfalls in dieser Reihenfolge an einen Jungen von sechzehn Jahren gegeben werden sollte, der in seine Waisenschwester verliebt ist. Die Bücher hatte mein Vater übrigens bei seinen Ausflügen in die kleinen Städte gekauft. Die Antiquariate, die Bücherkisten, die nach den Umzügen auf dem Gehweg standen, er fand sie immer noch.
     
    Lada kam, gegen ihre düstere Ankündigung, in den Ferien nach Pildau, und das waren Termine, die mich schon im Vorfeld in höchste Nervosität versetzten. Ich frisierte mich und versuchte, an mir und in meinem Zimmer Änderungen geschehen zu lassen, selbst wenn sie nur darin bestanden, den Schrank halb vor die Tür zu setzen. Das genügte, um beiläufig zu behaupten, das wäre es eben jetzt für mich, Schrank halb vor der Tür, Haare ins Gesicht gekämmt. Aber ich hatte mit diesen Kleinigkeiten nie eine Chance gegen ihre Auftritte. Jedes Heimkommen inszenierte Lada anders, mein Vater und ich konnten dabei nur die Zuschauer sein, nie durften wir sie einfach so begrüßen, wie es andere Familien mit ihren heimkehrenden Dichterinnen bestimmt machten. Lada sah immer anders aus, manchmal erschien sie mir kleiner, mal größer, aber jedes Mal hinreißender. Ihre Haare waren stets neu, sie hatte sich einen Schnurrbart gemalt oder sich ein altes schwarzes Kleid über der Hose angezogen, zu dem ein Hut gehörte mit dem Durchmesser der Hofstange. Einmal war sie per Anhalter gereist und hatte sich bis vor die Hofstange fahren lassen, dann wieder schlich sie spätabends ins Haus und erschreckte uns morgens, indem sie mit der leeren Kaffeekanne durchs Haus spazierte und maulte, weil niemand Kuchen für sie gebacken hatte. Besonders deutlich erinnere ich mich an zwei Ferien, in den einen sprach sie nur Französisch, das sie damals seit einem halben Jahr lernte, in den anderen, ihren letzten Ferien bei uns, sagte sie nichts. Sie blickte uns nur schweigend aus schwarz gemalten Augen an, was besonders meinen Vater nach einigen Tagen in eine leicht irre Heiterkeit versetzte. Ich weiß nicht, was es war, aber er sah Lada ernst auf dem Podest sitzen und an die Scheune starren. Lada, die nicht reagierte, die Fliegen auf sich herumkrabbeln ließ und den Zuckerkaffee neben sich kalt werden, und darüber musste mein Vater irgendwann lachen, es klang aber eher, als würde er auseinanderbrechen. Es polterte aus ihm heraus, so schlimm, dass er sich gleich hinter seine Tür verzog und das Radio aufdrehte, aber ich hörte das Lachen immer noch, es war heiser und sehr jung, und es war das erste Mal, dass ich meinen Vater überhaupt lachen hörte. Sonst sah er nur immer so aus, als würde er gleich, und das war mir nach diesem Tag eindeutig lieber.
    Ich nahm die dauerschweigende Lada mit zum Lager, wir saßen an der Aussicht, weit glitzerten neue Bänder, aber wir gingen sie nicht holen. Ich erzählte ihr aus der Schule und wie mich die Leute dort nannten und wen ich, wenn es ginge, für immer auslassen würde, es waren Schüler und Lehrer, aber mehr Schüler. Ich hatte diese Vorstellung, wie alle in einer Reihe stehen würden, der aus der Grundschule war auch dabei, den sie Wieser nannten, und wie ich mit einem Fingerzeig über ihr Schicksal entscheiden konnte. Davon sprach ich, aber wusste gar nicht, ob sie mir zuhörte. Sie trug diesmal etwas wie ein Betttuch, das sie mit Klammern um sich gelegt hatte wie eine Toga. Ihre Haare waren kurz und standen in alle Richtungen ab, ich hätte sehr gern meine Hand in ihre Achsel gelegt, wo ein hellroter Flaum gewachsen war, nur die Hand in dieses Nest, nichts weiter. Aber Lada schwieg. So sprach ich von meinen einsamen Sammeltouren die Straße entlang und der Unterführung, den Feldsteinhaufen am Wegesrand und wer sie wohl aufgeschichtet hatte, die Bauern waren doch viel zu dick dafür.
    »Mit den Steinen hat er deine Eltern aus dem Auto platzen lassen«, sagte ich irgendwann in meinen mäandernden Betrachtungen. Schon in der Stille nach dem Satz wusste ich, es war etwas zu weit gewesen. Da, Ladas Augen auf mir, siedend wie nie. Es war nicht besonders gut gesagt, sicherlich, aber ich war doch davon ausgegangen, dass sie die Geschichte kannte. Nur, es gab so viele Geschichten hier, wer behielt schon den Überblick? Eigentlich hätte das doch der Vater in der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher