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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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Seite geschwemmt und aussortiert. Wir hatten in Lebensdingen das gleiche spezifische Gewicht, und das ist, davon bin ich bis heute überzeugt, das Beste, was man mit einem Freund haben kann.
    Er wusste alles von Lada, ich konnte nicht anders als es ihm erzählen, und ich denke, er war nach einiger Zeit noch mehr verknallt als ich, allein durch meine Erzählungen. Ich ließ nichts aus. Nicht wie Lada in der ersten Nacht noch kokelnd (ich übertrieb ganz gern) in mein Bett gelegt wurde. Nicht wie es war, mit ihr und dem Gemüse zu duschen, ihre Oberlippe und die Formel für das rote Wellenhaar, das Spiel der Ameisen und nun eben das Gedicht, das sie aus dem Internat geschickt hatte, als Antwort auf zehn Briefe von mir.
    Die Trauer die du fühlst
    ist nur das Eichhörnchen
    das dir fehlt.
    Das deklamierte Malte hundert Mal auf der Treppe, die zu den Chemiesälen führte und die unsere ewige Zuflucht war. Es klang hundert Mal anders, wegen seines Fehlers. Er machte aus seiner Stimme ein Bachrauschen, halb singend und halb mit Felsen, an denen sich die Silben überraschend brachen. Das trieb die Lehrer zur Verzweiflung, aber ich verstand ihn klar und deutlich, ich hatte einen Malte-Filter, und als er Ladas Gedicht so ins Endlose aufsagte, fühlte ich deutlich das Glück, zufällig mit den zwei besten Menschen zusammengekommen zu sein. »Sie ist eine Dichterin geworden«, sagte Malte feierlich zum Abschluss, und ich schrieb es ihr in meinem nächsten Brief. Er schrieb ihr auch, das wusste ich, und ich hatte nichts dagegen. Seine Zuneigung war eher ein drolliges Märchengetue. Er war als Einzelkind aufgewachsen, und schon die Tatsache, dass ich all die Zeit ein Mädchen im nächsten Zimmer gehabt hatte, ein Mädchen, das dazu nicht meine Schwester war, kam ihm wie ein unerhörtes Ereignis vor, eine Heldentat nahezu, für die ich mir allzeit Bewunderung abholen konnte. Er bewunderte so bereitwillig, und das ist eine wirklich angenehme Eigenschaft bei einem besten Freund. Ich konnte ihm auch die unglaublichsten Geheimnise über Mädchen verraten, er glaubte alles aufs Wort, wobei mir gleichzeitig auffiel, wie wenig ich eigentlich wusste. Lada war ja eher wie ein Junge gewesen, oder die Opis und ich hatten sie eben so behandelt.
    Malte zeigte mir jeden Lada-Brief, den er verfasst hatte, er brauchte unheimlich lange für einen, und dann noch mal lange, bis er den Mut hatte, ihn abzusenden. Ich hatte Lada von Malte geschrieben und sie auch auf die Briefe vorbereitet, aber da ich niemals eine konkrete Antwort von ihr erhielt, genauso wenig wie Malte übrigens, war ich mir nie ganz sicher, was sie nun wusste und was nicht. Es waren jedenfalls höchst gezierte Gesänge, die er verfasste. Meistens sprach er Lada gar nicht direkt an, sondern hielt sich betont vage und schrieb manches von Annäherung an das Unbekannte und leidvoller Ungewissheit. Ich glaube, im ersten Brief hat er sie sogar gesiezt, so heilig war ihm das alles.
    Mein Vater hatte mir vor einiger Zeit den
Taugenichts
zu lesen gegeben, und ich dachte ihn mir immer wie Malte, nur etwas größer. Manchmal durfte er in Pildau sein, dann war ich auf der letzten Etappe nicht allein im Bus. Die Hofstange machte beim ersten Mal wenig Eindruck auf ihn, weil ich wohl in meinen Schilderungen so übertrieben hatte, ich hatte die Sache vom Ausblick auf den Fujiyama erzählt und die Läng-Tage geschildert wie Volksfeste. Als er dann auf dem Podest stand, sah er nur den holznassen Stamm, der schon so lange unser unterster Stecker war. Er war grün angemorscht, der Großvater hätte es nie so weit kommen lassen, er hätte das Holz immer wieder gewaschen und getrocknet. Aber der Großvater war nicht mehr da, und es sorgte niemand so recht für sein Denkmal. Ich wusste ja, dass es der Vater mir aufgetragen hatte, aber genau wie das Tagebuchführen war es jeden Tag schwerer, den man es nicht getan hatte. Lieber führte ich dem Malte meinen Vater vor, den ich ebenfalls in den schillerndsten Farben beschrieben hatte. Er enttäuschte uns nicht, das Gespür für das
rising to the occasion
war bei Max Honigbrod immer noch da, auch wenn Malte bestimmt das schwächlichste Publikum darstellte, das er je hatte. Aber mein Vater konnte noch die Dinge aus der Luft greifen und zu einem dichten Netz verweben, in das man sich als Zuhörer irgendwann fallen ließ, erschöpft von seinen Sprüngen. Er hatte damals die Sache mit der Schlaflosigkeit in kleinen Städten endgültig aufgegeben, ich glaube,
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