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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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das Ausmessen und Tragen beschränkte, denn auch wenn er für anderen Schmerz seit den Vorfällen dankbar war, gefährdeten abgeschnittene Finger seine weiteren Pläne. Die Tröge und Rinnen zerschlugen sie, stattdessen sah Max eine umlaufende Tischplatte vor, über der sich auf allen Wandseiten die Bücherregale erhoben, bis unter das Dach. Auf die Galerie und zu den weiteren Regalen dort gelangte man mittels der alten Heubodenleiter. Die Stallfenster waren klein und ließen eigentlich zu wenig Licht, aber das erinnerte Max an die Bibliotheken in Eton, und so beließen sie es bei ein paar zusätzlichen Birnen, die alle paar Meter eine helle Insel im Meer der Buchrücken bildeten, und unter jeder dieser Lampen stand später ein Stuhl oder Sessel. Sie hatten keine Eile. Das gemeinsame Sägen und Messen, die gemachten Fehler und gewonnenen Meter, die zusammen sortierten Bücher, das alles war beiden mehr Leben, als sie noch zu hoffen gewagt hatten.
    Manches linderte sich. Max ließ sich einen Bart stehen, und wenn abends die Unruhe kam, ging er laufen, den Berg hinauf und auf der anderen Seite an der Straße entlang, bis alles vor Schmerz pochte, dann blieb er stehen und atmete lange nur ein und aus. Da war es, dass er die rasenden Autos zu verachten begann. War es nicht lächerlich, wie die einen in diese und die anderen in jene Richtung fuhren, alle so schnell wie möglich und endlos hin und her? Was für eine sinnlose Rechnung. Wäre es nicht genauso gut, wenn jeder bliebe, wo er war? Irgendwann, sagte er sich, würde er über diese Verschwendung eine Studie machen.
    Die Dollar des
Original Pildauer
ernährten sie und würden noch etwas hinreichen, auch wenn das Patent auslief. Abends kochten sie, was Ludwig aus dem Garten brachte, sie waren nicht anspruchsvoll. Irgendwann erzählte Ludwig nebenbei von einer Beobachtung, die er im Garten gemacht hatte und wonach jener Teil des Mangolds, der nicht windgeschützt hinter der Mauer des alten Misthaufens stand, besser und kräftiger wuchs als der Teil in der ruhigen Ecke. Die geschützte Lage ließe ihn zwar zunächst schneller wachsen, aber er begänne dort früh zu schießen und so insgesamt nicht recht befriedigend zu tragen. Max horchte auf. Er besah sich am nächsten Tag die Verhältnisse und die Pflanzen, schlug in einigen Büchern nach und dachte ein bisschen. Dann ließ er Ludwig ein Gestell konstruieren, an das sie geschnittene Stoffstreifen aus den Zelten der Sloviks hängten, es sah aus wie eine sehr große quadratische Perücke. Die hängten sie mit den Streifen nach unten über den geschützten Mangold, und zwar so, dass die Stoffzotteln ganz sacht an den Blättern rieben. Zog man am Seil, mit dem das Gestell über eine Umlenkrolle verbunden war, streichelten die Stofffetzen den Mangold, ganz leicht, es raschelte nur etwas. Das war die erste Arbeit von Max Honigbrod auf Pildau, er fasste sie später in einem Aufsatz mit der Überschrift »Über das Anstreicheln zum Zwecke der natürlichen Wuchshemmung bei Nutzpflanzen« zusammen. Der gestreichelte Mangold nämlich schoss nicht weiter, sondern bildete genau wie der Mangold im Wind feste, gleichmäßige Triebe, und so würde er es in allen Gewächshäusern der Welt tun, wenn man ihn nur etwas streichelte.
    Über alte Universitätskontakte wurde diese Arbeit veröffentlicht und fand recht günstigen Zuspruch, vor allem bei den Gemüsezüchtern, jedenfalls erreichten in der nächsten Zeit einige offizielle Anfragen die kleine Hofstelle. Max Honigbrod nahm Einladungen an, erklärte auf Veranstaltungen sein Experiment. Auf einer Messe sprach Max mit einem Fabrikanten, der sich gerade anschickte, mit einer billigen, nicht haftenden Beschichtung für Pfannen das Land zu erobern. Max fragte ihn, was es bedeuten würde, wenn die Menschheit ihr Essen bald nicht mehr in Eisenpfannen zubereitete, wenn es kein Bratensatz mehr gab. Der Fabrikant wusste es nicht. Nach diesem Erlebnis begann Max, sich auf Zukunftsforschung zu verlegen, was aus zwei Gründen eine recht brauchbare Richtung zu sein schien. Es war die Zeit der neuen Materialien, der Rechner und Haushaltsgeräte. Die Menschen kauften diese Sachen, aber niemand wollte sich darum kümmern, wie sie die Zivilisation veränderten, welche Eigenschaften mit ihnen verschwanden, was auf dem Weg verlorenging. Zum anderen war die Zukunft recht leicht vorherzusagen, zumindest bis zu einem gewissen Ungenauigkeitsquotienten. Aber es machte sich niemand die Mühe, das zu
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