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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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dem Linda sterben musste, weil keine passenden Blutbeutel da waren, weil in der einfachsten Gleichung der Welt auf einmal eine Unbekannte aufgetreten war und die Sache unmöglich machte.
     
    Von diesem Tag an fügte sich nichts mehr. Es war, als hätten sich in jenen Stunden die Spurbreiten der Schienen verändert, auf denen zuvor alles wie von selbst gefahren war, jetzt entgleiste er bei jedem Anlauf und musste langsam und auf Sicht fahren. Das Kind nannte er Jasper, nach dem Maler Johns, den er bewunderte, aber er sah es nicht oft in den ersten Tagen. Die Schwestern hatten es im Krankenhaus behalten. Max hatten sie Tabletten gegeben und ihn irgendwann nach Hause geschickt, er war wohl auch ohnmächtig oder rasend geworden, was war der Unterschied? An das meiste aus dieser Zeit konnte er sich nicht mehr erinnern. Nach zwei Wochen, in denen er kein Wort sprach, holte er Jasper, der in ein Kissen gesteckt worden war, und fuhr mit ihm zu Stuart und Ella, aber als er die kleinen Räume und Ellas teilnahmslosen Blick auf das Kind sah, wusste er, dass er Jasper hier nicht lange lassen konnte. Das hier war das Gegenteil eines weiten Ozeans, obwohl man das Meer sah. Er suchte eine Frau in der Nachbarschaft, die mit Stuart und Ella nach dem Jungen sehen würde, dann reiste er, ohne abzusetzen, nach Pildau. Als er im Dorf ankam, kaufte er einem Burschen für 300  Britische Pfund die Zündapp unter dem Hintern weg. Er war noch nie auf so etwas gesessen, aber er hätte nicht mehr den Atem gehabt, die drei Kilometer nach Pildau zu gehen, er bekam seit Wochen überhaupt keine Luft mehr. Als er die Beschleunigung spürte und in den steinigen Fahrweg einbog, den er vor so langer Zeit in der anderen Richtung gefahren war, als er sah, wie viel höher die Bäume gewachsen waren und die Hofstange, da kamen alle Tränen, die er bisher nicht geweint hatte, und sie gingen links und rechts in die Gräben.
    Er blieb bei Ludwig, bis sich alles gelegt hatte, bis die Lupinen verblüht waren und wieder Atem da war. Sie hatten wenig geredet, aber es war trotzdem alles geklärt. Sie würden hier sein, und der kleine Jasper würde das erste Kind werden, das in einer Einöde zum Weltbürger wurde, wo anders sollte das gelingen als am Fuße ihrer wunderbaren Hofstange und mit dem Präsidenten der Eddie-Slovik-Gesellschaft als Großvater?
     
    So kam es. Ein halbes Jahr lang brauchte Max in London, dann hatte er alles abgewickelt, hatte das Haus und die BBC verlassen, seiner Mutter Lebewohl gesagt, mit Lindas Familie gebrochen, weil es nicht anders ging, und noch mal auf dem weichen Rasen im Park seiner Universität gelegen, es war die letzte warme Nacht des Jahres. Er wusste, das dort würde er nicht aufgeben können, das musste weitergehen, und er würde den Weg finden, der von Pildau auf diesen alten Rasen führte. Hatte er schließlich nicht schon viele Wege gefunden, wo andere keine sahen?
    Als er wieder in Pildau ankam, mit einem chauffierten Wagen aus der Stadt diesmal und Jasper auf dem Rücksitz, hatte Ludwig Honigbrod das Zimmer im ersten Stock bereitet. Der alte Mann hatte Milchpulver und Decken gekauft und ein Gitter für das Bett geschraubt. So lag Jasper fortan, und er war ein friedliches, gesundes Kind, das nur gegen Abend, wenn die ersten langen Schatten ins Zimmer fielen, ein wenig zu schreien begann. Er beruhigte sich, wenn der Großvater ihn dann herumtrug oder er das Geräusch der Kaffeemaschine hörte, in der Zuckerkaffee durchlief, immer nach dem gleichen Rezept, das auf drei Löffel Kaffee einen Löffel alten Zucker in den Filter gab.
    Schon nach wenigen Wochen, als er sah, wie gut Jasper und Ludwig auskamen, wurde Max Honigbrod unruhig. Er inspizierte die Räume und begann schließlich die eingelagerten Bücher zu vermissen. Es war doch eigentlich das Einzige, was er erreicht hatte, wenn Linda schon nicht mehr zählte. Er bat Stuart, sie zu schicken, und nach und nach trafen sie in Pildau ein, sorgsam genagelte Kisten auf Paletten. Sie stellten sie in den Stall, der sich an die Küche anschloss, in dem die Kühe der alten Bauersleute gestanden hatten und wo jetzt nur noch die Überreste der Sloviks lagerten, und als alles angekommen war, legte Max seinem Vater die Pläne vor, die er für den alten Stall hatte. Sie entfernten die Zwischendecke, und zwar so, dass vom Heuboden nichts blieb als eine umlaufende Galerie, darüber das große Dach. Zusammen tischlerten sie aus den Bodendielen Regale, wobei Max sich bald nur noch auf
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