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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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schon eine ganze Weile, auch wenn er nie etwas Endgültiges dazu sagte. Aber er war lange nicht mehr verreist gewesen, und wenn ich seinen Schreibtisch sah, lag darauf immer ein Stapel mit dem Deckblatt, das ich schon so oft gesehen hatte und auf dem der Name des Großvaters stand und der Titel in Großbuchstaben.
     
    »Dein Vater ist gut«, sagte Malte später im Lager, und ich war stolz. Den meisten Eindruck aber machten meine Tonbänder und die Hefte mit den Damen. Unsere Schatzsammlung bestand immer noch, manchmal ging ich auch noch an die Straße nach neuer Musik, aber allein fand man viel weniger, vielleicht konnte ich auch nicht so gut suchen. Malte und ich teilten uns ein Fläschchen, er wusste von meinem ersten Versuch, bei dem ich mich selbst niedergeschlagen hatte. Er hatte sich auf seine Verkostung deswegen vorbereitet, indem er Winterhandschuhe auspackte, die ihn vor Selbstprügel schützen sollten. Mit den Fäustlingen konnte er aber das Fläschchen nicht halten, deswegen rief er unmittelbar nach dem Schluck und in offener Panik: »Zieh mir jetzt die Handschuhe an, Jasper, die verdammten Handschuhe!« Das brachte mich so zum Lachen, dass ich, als das Zappeln anfing, schon ganz instabil war und einfach aus dem Lager den Hang hinabrollte. Das Rollen verstärkte die Wirkung noch, ich schlug durch das hohe Gras und peitschte alles um mich nieder, aber da war immer nur Luft, als würde ich gar nicht durch die Wiese rollen, sondern in Wirklichkeit weit fliegen. Als ich nach wie lange wieder hinaufkam, saß Malte ganz ordentlich an einen Baumstamm gelehnt, mit gestreckten Beinen, und sah mich seltsam zweideutig an. Angeblich war bei ihm das Zappeln relativ schnell in einen Tanz mit einer der Damen aus den Heften übergegangen, die überall um uns verstreut lagen. »Die Annäherung an das Unbekannte, Jasper«, raunte er und war den ganzen Nachmittag überaus bedeutungsvoll und sehr von den Ereignissen bewegt.
    Ich gefiel mir in den nächsten Tagen seines Besuchs durchaus als Führer durch unsere wundersame Hofstelle, sein Staunen spornte mich an, auch die kleinste Geschichte und winzigsten Abenteuer auszubreiten, als wären es erst jüngst vergangene Schlachten. Am Ende war ich wie ausgeleert, ich sah den Haufen an Pildauer Geschichte und wie er Malte jeden Abend erschöpft auf die Decke am Boden meines Zimmers hinstreckte und nur unruhig schlafen ließ.
     
    Mein Vater legte mir in dieser Zeit ein Buch vor die Tür, wie er es jetzt oft tat, wenn wir uns den ganzen Tag nicht gesehen hatten. Ich musste sehr früh aufstehen, um im Morgengrauen zum Bus zu kommen, während er erst spät richtig zu arbeiten anfing. Davor wehte er mittäglich durch seine Buchstapel oder schnarchte in einem der Sessel, und ich ließ ihn. Die Gutenmorgengeschichte franste langsam aus. Wenn ich zu ihm kam und darum bat, setzte er ohne Probleme an, aber der Reiseritter Robert war darin zu einer etwas schwierigen Person geworden, immer häufiger kam es vor, dass er einfach nicht da war und die Geschichte deswegen ohne Protagonist einen etwas losen Verlauf nahm.
     
    Das Buch an meiner Tür, das ich meine, war
Die Pforten der Wahrnehmung
von Aldous Huxley, einem seiner Hausgötter. Ich fing es am Tag nach Maltes erstem Besuch an, und es war eine Offenbarung. Was Huxley in diesen Aufsätzen beschrieb, hatte ich so oder ähnlich im Lager erlebt. Er kannte auch die Zwischenräume und, anders als ich, sogar die richtigen Worte dafür, und nebenbei lernte ich manch Praktisches zur Unterscheidung von Drogen und ihrem Gebrauch. Alle Warnungen schlug ich zweifach in den Wind, schließlich war Huxley laut meinem Vater einer der Klügsten gewesen, und schließlich hatte mir mein Vater selbst das Buch zum Lesen gegeben. Mit dem Einverständnis dieser beiden und ermuntert von der Lektüre, nahmen Malte und ich in den folgenden Monaten auch die anderen Sachen, bald verlegten wir die Kiste mit den Wurfpäckchen aus dem Lager in mein Zimmer, das war einfach bequemer. Ich schrieb Lada ausführliche Berichte über unsere Experimente. Es waren monumentale Erzählungen, die leider nicht mehr verfügbar sind. Vielleicht hat Lada sie noch irgendwo, ich werde sie fragen, wenn ich sie sehe.
    Obwohl ich meinem Vater nie von dem Lager und unseren Abenteuern in meinem Zimmer erzählte, wusste er etwas. Jedenfalls war seine Buchauswahl für mich in diesen Jahren ein einziger Wanderführer in die Unsicherheit. Er gab mir, als ich in die achte Klasse kam,
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