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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
Autoren: Max Scharnigg
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früher schon gehabt hätte, nichts Schlimmes, nur eben, sie könnte deswegen nicht kommen, und auch diesen Brief müsste jemand für sie einwerfen. Und unter diesen beunruhigenden Nachrichten schrieb sie sorgsam und links gesetzt ihren Namen Marlene und darüber keinen Gruß.
    Max Honigbrod nahm es hin, und ich besorgte die Einkäufe von ihrem Geld, denn mein Vater war für Mikroökonomie nicht ausgebildet, wie er freimütig zugab. Wenn er einkaufte, verhielt er sich, wie er sprach und dachte, er stellte inhaltliche Verknüpfungen her, wo es keine gab, er bemühte sich um eine möglichst ungewöhnliche Zusammensetzung seiner Taschen, die er dann stolz am Henkel der Zündapp nach Hause fuhr. Ich versuchte mich zu erinnern, was die Lene uns gekauft und gekocht hatte, um das Geld ganz in ihrem Sinne zu verwenden, aber ich kaufte eigentlich vor allem einen Kassettenrecorder und begann damit, meine gesammelten Bänder vom Straßenrand wieder in die Kassettenhüllen zu fädeln, aus denen sie ursprünglich stammten.
     
    Am Tag meiner mündlichen Abiturprüfung brachte mich mein Vater auf der Zündapp bis vors Gymnasium, das hatte er noch nie getan. Wir müssen ausgesehen haben wie Zirkusboten, auf der winzigen Maschine, mein Vater in einem zerschlissenen roten Pullover und seinen gelben, weiten Hosen. Ich hatte zur Feier des Tages die Blauzeug-Jacke des Großvaters an, die mir nicht übel passte. Als ich abgestiegen war und mein Vater mich prüfend ansah, erwähnte ich eine gewisse Unsicherheit, was den Lernstoff anging.
»Most entertaining!«
, sagte er, nicht mehr.
    Nach unserem Abschied hatte ich noch eine Stunde Zeit und spazierte durch den Schulgarten, den Malte und ich nie beachtet hatten, unsere Reviere waren hinter den Gebäuden, an den Treppen und Mauern des Parkplatzes. Dabei war der Garten nett, wie ich jetzt sah. An den beiden Apfelbäumen hingen die letzten Blütendolden, sie blätterten schwerelos aus. Wenn ich die Hände in die ausgebeulten Taschen steckte, fand ich darin immer noch ein Stück Gartenschnur und konnte loses Steinmehl zwischen den Fingern zerreiben, das würde Glück bringen.
    Es war eine Prüfung in Mathematik, und sie ging besser, als ich gedacht hatte. Mein Vorteil bestand in der Erschöpfung der Lehrer, die schon einen ganzen Vormittag abgefragt hatten. Die beiden hatten sich in die zweite Bankreihe gesetzt, und ich sah auf der nachlässig gewischten Tafel noch den einen oder anderen Ansatz meines Vorgängers. Das gab mir genau den Halt, den ich bei solchen Sachen brauchte, ich ließ mir Zeit und setzte sorgfältig Zahlen und Klammern, und gerade als ich anfangen wollte, auf der anderen Tafelseite mit dem Zirkel die Scheitelpunkte zu zeichnen, ging die Tür auf, die Tür, die eigentlich wie versiegelt sein sollte, schließlich war es eine mündliche Abiturprüfung. Es war die Sekretärin der Schule, die hereinkam, eine alterslose Person mit hochgesteckten Haaren. Sie sah mich ängstlich an, als sie den Klassenraum betrat. Da wusste ich, dass ich mir um die weitere Prüfung keine Gedanken mehr machen musste, und hörte auch in derselben Sekunde damit auf. Das Tuscheln der drei, wie sie mir den Zirkel aus der Hand nahmen und wie die Schulgänge unter den Schritten hallten, als einer der Lehrer mich zu seinem Wagen nahm.
     
    Im Krankenhaus der Stadt gab es einen ebenerdigen Raum, gleich neben dem Eingang, der mit einer Balustrade versehen war, die auch gut zu einem Hotel gepasst hätte. Halbhoch die Jalousien vor dem Fenster, ein Stuhl, auf dem niemand saß. Die Krankenschwester, die mir die Tür aufgemacht hatte, ließ die Jalousien ganz herunter. Das große, weiße Bett in der Mitte war leer. Ich wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber die Schwester erklärte es mir, und dann setzte ich mich auf den Stuhl in diesem ebenerdigen Zimmer und wartete, denn nur das hatte ich von ihren Worten verstanden.
     
    Es ist schwer zu beschreiben, Lada, wie die Zeit auf dem Stuhl eines Krankenhauszimmers vergeht. Sie überschlägt sich, weißt Du, sie rast, und gerade wenn Du den Bezug des Sitzpolsters zum ersten Mal richtig angesehen hast – da sind lauter winzige Quadrate –, dann sind ausgerechnet schon alle Fristen vorbei, und die Ärzte kommen und schieben ein neues Bett herein, obwohl es schon eines in dem Zimmer gibt. Und in dem neuen Bett liegt Dein Vater, und zwar genau der Vater, der immer da war, an allen Tagen und bei allen Winden und auch bei Windstille. Dein Vater, der, seit
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