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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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Schlafzimmer zum Bad. So schnell, dass ich absolut nichts erkennen konnte, was von Bedeutung gewesen wäre. Heute bin ich überzeugt davon, dass das lediglich ein nach bestem pädagogischen Wissen ausgeheckter Plan war – die kleine Ronia soll ihren Vater mal nackt sehen, große Brüder hat sie ja keine. Und leider muss ich seitdem beim heiligen Samariter an unbekleidete Männer denken und an das, was man dabei sieht oder eben nicht sieht.
    Welche Verse auch immer Vater heute predigt, sie werden mich mit jeder Silbe daran erinnern, was am Nachmittag geschehen ist, auch wenn ich seit diesem Desaster mit aller erdenklichen Anstrengung versuche, nicht daran zu denken. Immerhin, ich habe alles so durchgezogen, wie es unsere Tradition vorschreibt, business as usual, und noch scheint keiner von ihnen etwas gemerkt zu haben. Wie immer habe ich mit ihnen zusammen gegessen (Mama herausgeputzt wie zum Opernball, Vater in sich gekehrt und schweigend, da geistig schon beim Predigen), wir haben uns unsere Geschenke überreicht und uns leidlich darüber gefreut, mit Sekt angestoßen (worauf?). Dann ist Vater in die Kirche geflüchtet, während Mama sich für den Gottesdienst umzog und ich mit dicker Kehle und einem Knoten im Bauch auf mein Smartphone starrte, in der Hoffnung, es würde sich alles klären,
»Sorry, Süße, hab überreagiert, ich vermisse dich, gib mir noch eine Chance«
oder eine andere von Lukas’ gefühlsschwangeren Nachrichten – doch nichts. Schweigen.
    Also das gleiche Prozedere wie jedes Jahr, seitdem Vater den Lichtergottesdienst halten darf. Stumm und angespannt wie vor einer Prüfung warten die Frauen des Hauses auf das Glockengeläut. Mama wird immer nervöser und ich werde immer stiller, bis wir endlich rüberlaufen, frierend in der Kirche sitzen und zu Vater aufschauen, als sei er der Nabel der Welt. Wenn wie ursprünglich ausgemacht Lukas neben mir sitzen würde, hätte ich damit nicht das geringste Problem. Dann wäre es schön, Vater ein wenig anzubeten und Mamas feuchte Augen zu registrieren. Selbst das Frieren wäre schön, weil man sich anschließend gegenseitig wärmen könnte und …
    »Ronia? Ronia …« Mama stupst mich sanft in die Seite. Mit verschwommenem Blick bemerke ich, dass die Menschen um uns herum sich erheben. Der typische Gottesdienstgeruch nach Wintermänteln, klammen Gesangbüchern und Altfrauenparfüm wallt auf. »Du hast doch nicht etwa geschlafen?«
    »Nein«, antworte ich knapp und schiebe mich durch die schmale Sitzreihe, bis ich den Mittelgang erreicht habe und Mama voraus nach draußen eile. Noch einen offiziellen Punkt hat dieser Abend, den ich überstehen muss – das allgemeine Pfarrersfamilie-Begutachten am Eingang der Kirche. Vater wird erst nach einigen Minuten zu uns stoßen, bis dahin müssen wir die Stellung halten. Wir werden von Pigmentflecken übersäte, schlaffe Hände schütteln und ununterbrochen lächeln müssen. Wie stolz ich früher dabei immer war – und wie elend es sich heute anfühlen wird.
    Doch das Programm hat sich bewährt und es funktioniert. Ich lasse alles über mich ergehen, die ewigen Bemerkungen, wie groß ich doch geworden sei (ich bin einundzwanzig, ich wachse seit drei Jahren nicht mehr), wie sehr ich meinem Vater ähnlich sähe und wie schade es sei, dass ich nicht in seine Fußstapfen trete. Aber Archäologie sei sicherlich auch interessant. Dieser Satz klingt stets ein wenig mitleidig, als sei ich ein verirrtes Schaf, das noch nicht begriffen hat, dass das Gras inmitten seiner Herde am saftigsten schmeckt.
    Doch es ist ausgerechnet Mama, die das Programm plötzlich umschreibt – gerade noch rechtzeitig, bevor Jonas uns erreicht. Geschickt zieht sie mich in eine der Nischen der neugotischen Außenmauer, in deren Schatten ich als Teenager eines Sommerabends hatte knutschen wollen, und schaut mich mit ihrem »Ich weiß alles«-Blick an. Verdammt.
    »Er hat dich verlassen, oder?«
    Ich nicke nur, die Augen von ihr abgewandt, ich will jetzt nicht heulen. Schließlich habe ich es die ganze Zeit geschafft, nicht zu heulen. Dann überstehe ich dieses Zwiegespräch jetzt auch noch.
    »Das tut mir leid.«
    Immer noch unfähig zu sprechen, zucke ich mit den Schultern. Ihr tut’s wirklich leid, ich weiß das, aber da ist noch etwas anderes in ihrem Tonfall – so als wäre sie froh, nun für mich da sein zu können und mich in ihre Obhut zu nehmen. Sollte sie nicht lieber wünschen, dass ich glücklich bin?
    »Er war zu sensibel für dich,
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