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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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die Szenen von Mannheim und Ludwigshafen, weil die Dealer wissen, dass es bei uns weniger Razzien gibt. Jonas ist einer von jenen Polizisten, die das gerne ändern würden.
    Ich bin damit aufgewachsen – mit dem Wissen, dass auf dem Marktplatz nachts gedealt wird, und den Warnungen, nicht alleine am oberen Flussufer herumzustreunen, schon gar nicht in der Dunkelheit. Ich hab es auch nie getan, aber für Johanna und mich gab es früher kaum etwas Aufregenderes, als sich möglichst nah an diese unsichtbare Grenze heranzuwagen. Etliche Sommernachmittage verbrachten wir auf den warmen Ufersteinen am Ende der Promenade und hofften, mal einen echten Drogenabhängigen zu Gesicht zu bekommen. Doch alles, was wir jemals entdeckten, war eine zerbrochene Einwegspritze und ein gebrauchtes Kondom (und Letzteres fanden wir eindeutig ekelhafter als die Spritze). Doch, ich kann mir vorstellen, dass dieser Typ in die Szene gehört und sich hier nachts auf dem Geländer abseilt, um seine ganz persönliche Art von Weihnachten zu zelebrieren. Ein gefallener Engel, der sich mit jeder Faser seines Seins dessen bewusst ist, wie verflucht schön er ist, auf eine abgerissene, unterschwellig sexuelle Art und Weise, das ja, aber trotzdem schön. Ich tu ihm den Gefallen, auf seine Show einzugehen und ihm das zu zollen, wonach er verlangt – ich kann gar nicht anders. Aber gleichzeitig durchschaue ich ihn, und wenn er nur ein bisschen Großhirnrinde im Schädel hat, sieht er mir das an. Vielleicht schäme ich mich morgen dafür, doch noch ist die Tür hinter meinem Kummer offen und der weite, leere Raum, zu dem sie führt, zieht mich mehr und mehr in seinen Bann, als wolle er mir etwas zeigen, das ich nie wieder vergessen darf.
    »Ich glaub, wir beenden das hier besser.« Jonas klaubt das Glas aus meinen Händen, und bevor ich protestieren kann, hat sich der Typ vom Geländer gleiten lassen und ist im Dunkel des hinteren Treppenaufgangs verschwunden. Geht er aufs Klo? Oder etwa schon nach Hause? Nach Hause, was soll das sein bei einem Dealer, Stricher, Drogenkonsumenten und was er sonst noch alles ist, wenn ich Jonas Glauben schenke? Der hat kein Zuhause. Der will gar keins haben. Plötzlich kann ich meinen Mantel und meinen Schal nicht schnell genug überstreifen. Ich möchte ihn noch einmal sehen, nur kurz.
    »Wie heißt der eigentlich, weißt du das?«, rufe ich in Jonas’ Ohr, während er sich den Schal um den Hals bindet. Anders als schreiend kann man sich nicht mehr verständigen.
    »Er wird River genannt. In Wahrheit ist sein Name einfach nur Jan.« Verschweigt mir Jonas bewusst den Nachnamen? Doch ich unterbreche ihn nicht. »Er war ein paar Jahre weg, hat damals schon Ärger gemacht, in der Schule und ab und zu abends auf dem Marktplatz. Randale, Sachbeschädigung und so weiter. Seit einigen Monaten ist er wieder in der Stadt. Keine Ahnung, was er hier will. Von dem ist jedenfalls nichts Gutes zu erwarten.«
    Ausnahmsweise schlucke ich meinen Kommentar herunter. Ein paar Jahre weg – er könnte sich doch verändert haben. Geläutert sein. Aber ich lasse Jonas sein Böse-Buben-Bild. Es passt ja auch zu dem, was ich beobachtet habe.
    »Wie alt ist er?«
    »Weiß ich nicht genau. Achtzehn oder neunzehn, glaub ich.«
    Mir entfährt ein Kichern. Ich hätte ihn auf mindestens zweiundzwanzig geschätzt, in diesem Halbdämmer und angesichts seiner Coolman-Posen, doch vielleicht hab ich mich geirrt. Und vor dem soll ich mir in die Hosen machen?
    »Lass dich davon nicht täuschen. Es geht das Gerücht um, dass er Frauen mit Geld gezielt um den Finger wickelt und dafür – na ja. Kannst es dir denken. Er macht einen auf Edel-Callboy. Vielleicht sogar auf die professionelle Tour.« Dass er seinen Körper zu Geld machen kann, ist etwas, woran ich keinerlei Zweifel habe, obwohl mir bei der Vorstellung flau wird.
    »Was fragst du überhaupt so viel nach ihm?«, fährt Jonas fort.
    Wir sind draußen auf der Gasse vor der Kneipe angelangt. Es regnet immer noch, feiner Niesel, den man in der diesigen Luft kaum sehen kann.
    »Damit ich weiß, von welchen bösen Wölfen ich mich fernhalten soll«, erwidere ich ironisch und stelle fest, dass meine Worte trotz meiner schweren Zunge glasklar klingen. Noch immer fühle ich mich so wach, dass es beinahe schmerzt.
    Für einen Moment blende ich Jonas aus und bin ganz alleine mit mir, meine Ohren sind in der jähen Stille der Stadt wie verschlossen, dafür spüre ich meinen Herzschlag umso deutlicher. Es ist,
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