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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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er dreht sich dabei auch noch eine Zigarette, das Tabakpäckchen zwischen die Zähne geklemmt. Interessanterweise wirkt das nicht dämlich, sondern – ach, ich weiß es gar nicht genau. Hauptsache, es zieht die Blicke auf sich. Das, was er da oben veranstaltet, ist eine ausgefeilte Show, kreiert für all die unglücklichen verirrten Seelen hier, die heute Abend kein Wohnzimmer haben, wo sie mit ihren Lieben vor dem illuminierten Baum sitzen und selbst gebackene Plätzchen essen. Er ist über all das erhaben.
    Das bist du doch, oder?, denke ich eisig und spüre, wie ein Glühen über meine Wangen wandert, als er seinen Blick hebt und mich damit streift – nur eine Sekunde, aber mitten durch das graugrüne Meer meiner Augen. Kenne ich ihn? Habe ich ihn schon einmal hier gesehen? Nein … nein, das habe ich nicht. Mein Kopf erinnert sich nicht an ihn, doch mein Herz erbebt, als würde es ihn erkennen. Etwas an ihm kommt mir vertraut vor, wie aus lange vergangener Zeit, doch kann ich es nirgendwo festmachen, weder an den in seine Stirn fallenden, lässigen dunkelblonden Strähnen noch an seinem leicht verächtlichen, aber weichen Mund, noch an seinem Körper, der aussieht wie gemalt. Verwundert mustere ich seine Gestalt. Der schwere dunkle Kummer in mir scheint dabei eine Tür zu öffnen, die mich mehr und tiefer sehen lässt als je zuvor. Da ist ein Raum in mir, von dem ich bislang nichts wusste – und dieser junge, fremde Mann besetzt diesen Raum binnen Sekunden. Weil er seine Weiten kennt.
    Ratlos linse ich in meinen Cocktail. Geht es dieses Mal so schnell? Bin ich bereits betrunken oder fange ich vor lauter Seelenstress an zu fantasieren? In einem letzten Versuch von Disziplin richte ich mich kerzengerade auf und zwinge mich, ihn so abgeklärt wie möglich anzuschauen. Er ist nur ein fremder Kerl, der zufällig in der gleichen Kneipe gelandet ist wie ich, mehr nicht. Eingebildet ist er noch dazu – es kann nicht bequem sein, da oben zu sitzen. Er muss wissen, wie gut er dabei aussieht. Was für ein Angeber.
    »Du solltest vielleicht mal aufhören zu starren«, schreckt mich Jonas’ Stimme auf. Sein Mund ist so dicht an meinem Ohr, dass ich seinen warmen Atem spüre. »Und wenn du schon starren musst, starre nicht ihn an.«
    »Wieso? Werde ich dann mit einem Fluch belegt?«, flachse ich. Meine Zunge ist wirklich schon etwas schwer, aber geistig fühle ich mich wacher und klarer denn je. Alles ist so echt geworden, so intensiv. Auf eine mir selbst völlig unverständliche Weise finde ich es fantastisch, hier auf meinem Würfel zu sitzen und diesen Knaben mit seinem schlampigen Rockstargehabe anzuglotzen. Ich brauche nichts anderes. Mir ist sogar, als müsse ich auf ihn zugehen und ihm in die Augen schauen – jetzt sofort. »Der ist total stoned, siehst du das nicht?«, schreit Jonas in mein Ohr, denn nun wurde die Musik lauter gedreht und der DJ pfeffert uns Prince entgegen, When doves cry , der passende Soundtrack für diese Szenerie. Ich nehme einen tiefen Schluck durch den Strohhalm, dann leere ich das Glas in einem Zug, doch die Menge hat gereicht; ein Cocktail und ich bin bedient. »Er ist stoned und ich bin voll. Na und?«
    »Ronia, bitte. Hör auf, Witze zu machen. Der Typ ist uns bekannt. Also – uns .«
    Der Polizei? Das wird ja immer spannender.
    »Wir haben den schon länger im Visier.«
    »Aber offensichtlich nur das«, schreie ich zurück, ohne den Kerl aus den Augen zu lassen. Er hat seine Kippe erfolgreich fertig gedreht, schiebt das Tabakpäckchen zurück in seine hintere Hosentasche, wobei sich sein rechter Oberschenkel unter der knapp sitzenden Jeans anspannt, und beginnt mit gesenkten Wimpern zu rauchen. Ich bin versucht, Beifall zu klatschen, und kann ein spöttisches Grinsen nicht unterdrücken. Doch gleichzeitig suchen meine Augen in seinem Gesicht fast flehend nach einer Regung, die mich meint. Unberührt schaut er durch mich hindurch – also zurück zu Jonas und seinen Unkenrufen. »So schlimm kann es wohl nicht sein. Denn er sitzt ja hier und nicht im Knast, oder?«
    »Hey, ich meine das ernst. Wir haben ihn wegen mehrerer Dinge im Verdacht. Sachbeschädigung, Anstiftung zu Prügeleien, außerdem wird er immer wieder am Tierheim gesehen, unten am Fluss. Keine gute Gegend.«
    Wie jedes Mal, wenn Jonas davon erzählt, bin ich von leisem Erstaunen erfüllt. Unsere kleine, beschauliche Stadt am Fluss hat eine beachtliche Drogen- und Stricherszene. Angeblich ist sie eine Außenstelle für
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