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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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doch ich bin nicht in der Lage, wieder wegzusehen. Denn so nah werden wir uns nie wieder sein.
    Er hat sein Gesicht dem Himmel zugewandt, die Augen halb geschlossen, eine gekonnte, träumerische Pose, mit Kippe im Mundwinkel und feuchten Strähnen in der Stirn. Einzig das höhnische Grinsen passt nicht. Es gilt mir. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Verdammt, er spielt mit mir! Das war alles ein Spiel … Nicht ich habe ihn verfolgt. Er hat mich gejagt – mich und meine Gefühle. Er wusste, dass ich hinter ihm bin. Hat nur auf den passenden Moment gewartet, um so lange auszuharren, bis ich neugierig werde und ihn anschaue. Es ist schon wieder geschehen. Ich bin gerade erst fünf Stunden solo und schon zapple ich in einem neuen Netz. Oh, wie ich es verabscheue.
    In einem plötzlichen Zorn hebe ich mein Handy, aktiviere mit dem Daumen die Kamera und drücke ab. Klickend fängt sie ihn ein. Er zuckt nicht einmal. Ich bin diejenige, die geblendet ist und fast ins Wanken gerät.
    »Werde erwachsen, Ronia Leonhard.«
    »Du mieser Psycho!«, zische ich so boshaft, wie es mir in dieser lächerlichen Situation möglich ist, doch es klingt viel zu hilflos und schwach. Woher zum Henker kennt er meinen Namen?
    »So, bin ich das? Ja?« Er spricht mit Kippe im Mund und es klappt gut, vermutlich hat er das als Vierzehnjähriger stundenlang vor dem Spiegel geübt, um möglichst cool zu wirken. Erfolgreich. »Ich bin ein Psycho? Wer stalkt hier denn wen?«
    Mit zwei Fingern nimmt er die Zigarette aus dem Mundwinkel und wirft sie in einem eleganten Bogen auf die Straße. Nein, so was kann man nicht üben. Das hat man drauf oder nicht und ich hasse mich dafür, dass mein Unterleib mit einem eindeutigen Kribbeln darauf reagiert. Aber ich laufe nicht weg. Es ist das Einzige, was ich tun kann – bleiben und ihn aushalten. Fliehen werde ich nicht. Das wird er nicht erleben. Er gönnt sich noch ein paar amüsante Minuten, ein kleiner, arroganter Scheißer, der sich die Rübe zugedröhnt hat und mit großen Mädchen spielt. Dann wendet er sich leise seufzend ab, als sei ich ein hoffnungsloser Fall, streckt sich kurz und läuft weiter, wohl wissend, dass ich nun endlich brav nach Hause gehen werde.
    Doch ich bin dankbar für die frostige Verachtung in mir, von der ich nicht genau weiß, wem sie gilt – ihm oder mir. Vielleicht uns beiden.
    Denn sie verbietet mir jeglichen weiteren Gedanken an ihn.
    Morgen wird er mich vergessen haben. Morgen werde ich ihn vergessen haben.
    Wir werden uns nie wieder begegnen.

Geblendet
    D er Signalton meines Messengers reißt mich so schnell aus dem Schlaf, dass ich für ein paar Sekunden das Gefühl habe, Körper und Seele hätten sich entzweit und müssten sich erst wieder finden. Mir ist schwindelig, obwohl ich noch liege, und vor meinen weit geöffneten Augen tanzen Lichtkreise, trotz der Dunkelheit, die mich umgibt. Außerdem ist mir übel, doch das hat wohl eher mit dem Geschmack von fruchtiger Säure auf meiner Zunge zu tun; ein letzter Gruß des Cocktails, den ich im Outback vernichtet habe.
    Ich hab es mal wieder geschafft, mir mit einem einzigen Drink einen Kater anzutrinken. Aber es ist mehr als das, was mich außer Gefecht setzt – das weiß ich, bevor die Erinnerungen mich heimzusuchen beginnen, eine nach der anderen. Sie fliegen mich aus dem Finsteren an wie wütende Rachegeister der Vergangenheit, stärker und raffinierter als je zuvor. Stöhnend richte ich mich auf, kneife die Augen zusammen und versuche, das Gummi aus meinen Haaren zu ziehen, das sich während dieser kurzen Nacht hoffnungslos in meinem lockeren Zopf verheddert hat.
    Lukas … Lukas. Es ist aus. Das ist es doch, oder? Ja, kein Traum – ach, wie schön wäre es, wenn ich nur geträumt hätte, er habe mich verlassen, obwohl nichts in mir danach ruft, ihn zu umarmen oder zu küssen. Ein Tag nach Weihnachten und ich bin wieder solo. Welch eine Blamage. Aber da war noch etwas gewesen, etwas anderes, Helleres, Unschuldigeres – etwas Neues. Etwas … oh mein Gott.
    Wie eine Erscheinung tritt sein Bild vor mein inneres Auge und schiebt all das, was an verzerrten Lukas-Erinnerungen durch mein Hirn und Herz raste, mit berückender Klarheit zur Seite. Ein junger Kerl mit arrogantem Blick, der auf dem Treppengeländer des Outback thront und mich in »Wer guckt als Erstes weg« herausfordert. War das ein Traum gewesen? Oh bitte, lieber Gott, lass wenigstens das einen Traum gewesen sein …
    Noch einmal stöhne ich auf,
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