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Vor uns die Nacht

Vor uns die Nacht

Titel: Vor uns die Nacht
Autoren: Bettina Belitz
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ziehe meine Knie an und lasse meine Stirn daraufsinken. Wenn es nur das wäre – ungehemmt einen Kerl angeglotzt zu haben. Das könnte ich mir verzeihen. Aber ich habe ihn verfolgt wie eine Stalkerin, habe mich an seine Fersen geheftet und bin ihm nachgelaufen, bis er mich gestoppt hat und ich …
    Fahrig greife ich nach meinem Handy, doch es rutscht mir aus der Hand und landet rumpelnd auf dem Teppich. Aus dem Erdgeschoss kommt prompt eine Antwort in Form von Stühlerücken und Geschirrklappern. Drittes gedachtes »oh Gott« an diesem Morgen – das Helfertreffen. Gleich fallen die ersten ehrenamtlichen Mitarbeiter der Gemeinde bei uns ein, werden von Mama mit selbst gebackenen Plätzchen, Tee und Schnittchen versorgt und ich muss dabei gute Fee spielen. Weil sich das so gehört in einem Pfarrhaus. Smalltalk, Lächeln, liebe Worte sprechen. Zum Glück wissen all die lieben Seelen da unten nicht, was ich gestern Abend so getrieben habe.
    Ich gebe mir einen Ruck und angle mir erneut mein Smartphone, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich als Erstes damit tun soll. Noch immer hallt das Echo des Signaltons durch meine Ohren und ja, ich habe die Hoffnung, es könnte sich eine Nachricht von Lukas dahinter verbergen. Das ist doch möglich – er hat die Nacht bei seiner Noch- oder Ex- oder Übergangsfreundin verbracht und gespürt, dass es nicht das Gleiche ist wie mit mir, und jetzt begreift er langsam, dass er einen Fehler gemacht hat und mich zurückwill und – aber will ich das denn überhaupt? Möchte ich mich derart von ihm rumschubsen lassen? Ich sehne mich doch gar nicht nach ihm. Andererseits: Verirrungen und kurzfristige Trennungen kommen in den besten Beziehungen vor. Und wenn er aufrichtig bereut? Hat er dann nicht eine zweite Chance verdient? Plötzlich bin ich auf fast unangenehme Weise nüchtern und kann keine Sekunde länger warten, die Nachricht zu lesen. Mit einem kurzen Wischen schiebe ich den Sperrbildschirm nach unten und …
    Nicht Lukas. Sondern ein unbekannter neuer Kontakt. J.R.S. – Moment … J.R.S. – Jan? Der Kerl von gestern? Ich starre auf das winzige Profilbild, doch es hilft mir nicht weiter. Wenn ich die roten Farbkreise vor tiefem Schwarz richtig deute, zeigt es die verwirbelten Lichtspuren eines sterbenden Sterns. Und dahinter soll sich River verbergen? Zweifelnd öffne ich die Nachricht.
    »Normalerweise kostet das Geld.«
    Ich scrolle nach unten, obwohl es keinen Zweifel gibt, dass das alles gewesen ist. Kein Hallo, kein Tschüss, nur dieser eine nebulöse Satz. »Normalerweise kostet das Geld.«
    Tief durchatmend versuche ich mich an Jonas’ mahnende Worte von gestern Nacht zu erinnern. Doch eigentlich weiß ich genau, von wem diese Nachricht stammt, und sie lässt mich in ihrer arroganten Knappheit so wütend werden, dass ich die Bettdecke von meinen Füßen schleudere.
    Jan, genannt River. Das ist sein Name. Jan. J.R.S. Passt doch. Natürlich ist er zu cool, um seinen vollen Namen in seinem Profil zu hinterlassen, man soll ruhig ein wenig rätseln.
    Aber was nur meint er mit seinen Worten? Normalerweise hätte ich bezahlen müssen … Wofür? Ihn anzuschauen? Zu verfolgen?
    Au Backe, mein Foto von ihm. Mit zitternden Fingern wechsele ich in die Bildergalerie und rufe das letzte aktuelle Bild auf. Doch das hätte ich mir sparen können. Es ist völlig überblendet und verwackelt. Sein Gesicht verkommt zu einer verschwommenen Fläche, weder Augen noch Mund sind zu erkennen, nur helle und dunkle Schlieren. In seinem Rücken erhebt sich ein eindrucksvoller Strahlenkranz nach allen Seiten. Als habe er Flügel aus Licht.
    Habe ich ihn etwa auch berührt? Mein Bauch hebt und senkt sich kurz, weil ich nicht mehr weiß, was Wunsch und was Wirklichkeit gewesen ist – und was Traum. Ja, ich hab von ihm geträumt. Siedend heiß fällt es mir wieder ein und ich wünsche mir, dass diese Bilder wieder verschwinden, am besten für immer. Ich habe ihn geküsst … Ich habe seinen Kopf zu mir gezogen und ihn geküsst – und er hatte nichts dagegen. Es muss also ein Traum gewesen sein, natürlich war es ein Traum. Wenn ich das in Wirklichkeit versucht hätte, hätte ich garantiert eine Ohrfeige kassiert, so, wie er sich verhalten hat. Gedankenverloren benetze ich meine trockenen Lippen mit der Zunge. Seine jedoch waren weich gewesen … weich und warm …
    »Ronia?« Mamas Stimme trägt ihren gewohnt weihnachtlichen Unterton – Stress, Vorfreude, Ergriffenheit. Das hält noch an und wird
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